1 Zur Einführung

 

1.1. Anlaß der Untersuchung

Der Auslöser für diese Untersuchung war folgende Erfahrung: Ein Lehrer, der in seinem privaten dörflichen Umfeld täglich Plattdeutsch spricht, verlegte seinen beruf­lichen Schwerpunkt von der Arbeit mit 14- bis 16-Jährigen auf den schulischen Umgang mit 6- bis 10-Jährigen. Dabei stellte er einen nicht zu übersehenden Rück­gang der aktiven Sprachkompetenz im Plattdeutschen bei den Kindern fest.

Bei der Frage nach den Ursachen wurde er auf eine neuere Umfrage zur Lage des Niederdeutschen aufmerksam; sie wurde 1984 von der GETAS im Auftrage des Instituts für niederdeutsche Sprache in Bremen unter der Leitung von Prof. Dr. Dieter Stellmacher und unter Mitwirkung der Universitäten Kiel, Hamburg, Münster und Göttingen durchgeführt. Die Studie war in ihrer Anlage, Breitenwirkung und Aussage­kraft offensichtlich einmalig, die kurzgefaßte Mitteilung der Ergebnisse (Stellmacher 1987) vermittelte die neuesten Zahlen zur Lage des Niederdeutschen. Allerdings überraschte den Leser nach genauerem Studium der vorgelegten Zahlen Stellmachers optimistische Schlußfolgerung:

„Niederdeutsch ist nicht tot, die Sprache lebt und […] sie hat in den letzten 20 Jahren keineswegs an Boden verloren. […] Die niederdeutsche Kulturarbeit […] weiß sich auf einem stabilen Grund und braucht nicht zu befürchten, ihren Gegenstand zu verlieren” (Stellmacher 1987: 44).

Daß dieser Gegenstand u.a. die niederdeutschen Dialekte sind, steht wohl außer Zweifel. Deshalb muß bei diesem Blick in die Zukunft Kritik ansetzen: Zwar nennt Stellmacher den Untertitel seiner Bestandsaufnahme „Zur Lage des Niederdeutschen heute”, dennoch muß festgestellt werden, daß die Schlußfolgerung mit dem Blick nach vorn insgesamt zu positiv ausfällt.

Da ist zunächst einmal der befragte Personenkreis kritisch zu betrachten; schon bei der Frage 8 (Sprachkompetenzen nach Altersgruppen) fällt in der niederdeutschen Gesamtregion auf, daß bei den Befragten über 50 Jahren noch insgesamt 53% sehr gut bis gut Plattdeutsch sprechen, bei den 18- bis 34-Jährigen dagegen nur noch 13% (Stellmacher 1987: 26) Dieses scheint der Kernpunkt der Studie zu sein, wobei man sich natürlich durchaus der Gefahr einer Überbewertung einzelner Zahlen aus dem Gesamtrahmen der Untersuchung bewußt sein muß. Dennoch sollte man dieses Fak­tum völlig unsentimental ins Auge fassen. Damit ist Stellmachers Aussage, die Studie vermittele das Bild einer lebendigen Sprache, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar noch richtig, sie erscheint aber auf die Zukunft bezogen mehr als fragwürdig.

Sicherlich wäre es für die Interviewer und somit für die Durchführung der umfangreichen GETAS-Befragung sehr schwierig gewesen, auch die Heranwachsen­den im Alter von 8 bis 18 Jahren direkt miteinzubeziehen, dadurch wäre aber vermut­lich unsere These, daß das Plattdeutsche mit der heranwachsenden Generation endgültig auszusterben droht, erhärtet worden.’ Den Beleg für diese Vermutung bringt sicherlich die Frage 26 der GETAS-Befragung, die als indirekte Aussage über das plattdeutsche Sprachverhalten von Kindern und Jugendlichen angesehen werden kann: „Wie ist es bei Gesprächen mit Ihren Kindern?” Es ist zu beachten, daß es sich bei den Befragten um Dialektsprecher handelt, die Kinder unter 14 Jahren oder Kinder unter 14 Jahren mit älteren Geschwistern haben — also Familien mit Kindern im schulpflich­tigen Alter: Hier wird also — bezogen auf den gesamten niederdeutschen Sprachbe­reich — nur von 5% immer Plattdeutsch verwendet.

Das ist innerhalb einer Generation ein auffälliger Rückgang der dialektalen Sprachkompetenz bei den Heranwachsenden, und die alltägliche Beobachtung im südlichen Emsland, daß sich die Entwicklung des Plattdeutschen bei den derzeit 2- bis 18-Jährigen gegen 0% bewegt, wird insgesamt bestätigt. daß diese Entwicklung das endgültige „Aus” für das Niederdeutsche bedeuten wird, kann man weiteren Zahlen der Auswertung entnehmen: „Die Befragten mit aktiven niederdeutschen Sprach­kenntnissen haben diese Fertigkeit in ganz überwältigendem Maße als Kind erlernt (zu 84%), als Jugendliche und Erwachsene haben nur 9% bzw. 6% noch zum Niederdeut­schen gefunden” (Stellmacher 1987: 102).

Vor diesem Hintergrund muß die positive Ausdeutung des komplexen Aussage­ergebnisses von Stellmacher — reduziert auf diese Kernaussagen — als problematisch erscheinen, da hier dem oberflächlichen Betrachter (bzw. dem Leser der kurzgefaßten Bestandsaufnahme) der Eindruck vermittelt wird, um den Bestand des Plattdeutschen sei es auch in Zukunft recht gut bestellt.

Wenn also 95% der Kinder im Jahre 1984 ausschließlich Hochdeutsch im Elternhaus erlernen, fällt das Plattdeutsche als Muttersprache weitgehend aus (zumin­dest in dem Sinne: von der Mutter als Erstsprache erlernt). Nun kommt noch hinzu, daß die Großfamilie früherer Prägung nicht mehr existiert, so daß die Vermittlung des Plattdeutschen durch den täglichen Umgang mit den Großeltern auch in den meisten Fällen nicht mehr stattfindet. Wenn jedoch das Plattdeutsche nicht in den Kinderjahren vermittelt wird, so sind nach hiesigen Erfahrungen — die zumindest für das Emsland gelten — die Chancen für den späteren Erwerb aktiver Kenntnisse denkbar schlecht.

Schon in den zurückliegenden Jahrzehnten konnte man feststellen, daß aus­schließlich hochdeutsch sprechende Personen, die für längere Zeit oder endgültig ins niederdeutsche Sprachgebiet kamen, zwar relativ schnell die lokale Varietät verstehen konnten, sich jedoch sehr schwer taten mit dem Erwerb und insbesondere mit der An­wendung dieser Sprachform. Genauso scheint es mit den Heranwachsenden zu sein. Nun kommt die entscheidende Barriere für den späteren Erwerb hinzu; für Plattspre­cher gilt nämlich die Regel: Mit Personen, mit denen man Plattdeutsch spricht, spricht man selten Hochdeutsch — und umgekehrt. Damit hat auch der Lernbegierige keine Chance des Erlernens nach dem Prinzip: learning by doing. Ein Beobachter des Sprachlebens in Hamburg beispielsweise beschreibt dieses Phänomen so: „Es ist für mich immer wieder interessant zu beobachten, daß plattdeutsch sprechende Hafenarbeiter sofort auf Hochdeutsch umschalten, wenn sie bei den sich um Plattdeutsch bemühenden Gesprächspartnern am Klang spüren, daß sie die Sprache an sich nicht beherrschen” (Schuppenhauer 1976: 132).