Otto Lieber

Vier feuerrote Ohren

Wie es sich für einen Emsländer aus Klein Berßen gehört, wollte ich meine Studienzeit in Münster ver­bringen. Die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) sah das jedoch anders und wies mich auf einen Studienplatz an die Freie Universität in Berlin. Über das emsländische Buschtelefon erhielt ich, da dieser herbe Schicksalsschlag selbstverständlich immer wieder Ge­sprächsthema war, Kenntnis davon, daß ich einen Lei­densgenossen hatte, und zwar in Werlte. Wir fuhren gemeinsam zu Studienbeginn mit einem VW-Käfer, bis oben hin vollgepackt, an unseren künftigen Studienort und verstanden uns auf Anhieb prächtig. Hierzu trug insbesondere bei, daß mein Freund Hermann hervorragend und auch gerne plattdeutsch sprach. So wurden uns die Heimfahrten von Berlin nie langweilig, da wir uns gegenseitig plattdeut­sche Dönekes und Witze erzählen konnten.

Außerdem hatte es in Berlin den Vorteil, daß wir uns völlig ungestört unterhalten konnten, da uns ohnehin niemand verstand. Dieses nutzten wir selbstverständlich reichlich aus und lästerten teilweise völlig ungeniert im Bewußtsein unserer Un­angreifbarkeit.

Nach schweren und harten Studien an den Wochentagen leisteten wir uns als Wo­chenendhöhepunkt in aller Regel ein Festmenü (9,80 DM ohne Getränke) beim Chinesen „Yven Long” in der Hauptstraße Nr. 102, Berlin-Steglitz. Eines Sonntags saßen wir wieder bei unserem Lieblingschinesen, hatten wie üblich das Sonn­tagsmenü bestellt und lästerten – wie üblich – über unsere Professoren, Studien­kollegen, die beim Chinesen sitzenden übrigen Gäste – wie üblich auf Plattdeutsch. Mein Freund Hermann berichtete mir sogar ausführlich, wie sich seine Bemühun­gen um eine junge Dame am Abend vorher, nachdem ich das Lokal verlassen hat­te, weiterentwickelt hatten und zu welchen Ergebnissen seine Bemühungen ge­führt hatten.

Am Nachbartisch saß ein etwa 30jähriger Mann, der sich über unser Kauder­welsch offensichtlich amüsierte. Wir hatten dies schon des öfteren erlebt, und ent­sprechend unserer Erfahrung dachten wir uns, daß er auch seine Probleme damit habe, uns landsmannschaftlich einzuordnen. In Berlin waren wir schon für Nie­derländer, Belgier, Skandinavier und sogar Iren gehalten worden. Insofern irritier­te uns das Amüsement unseres Nachbarn wenig. Selbstverständlich bezogen wir auch ihn in unsere Betrachtungen ein und teilten uns die Ergebnisse unserer Be­obachtungen auf Plattdeutsch mit. So amüsierten wir uns alle bestens.

Unser Nachbar war vor uns fertig, zahlte und verließ mit einem vergnügten Kopf­nicken in unsere Richtung das Lokal. Wir nickten freundlich zurück und schauten aus dem Fenster noch kurz hinter ihm her. Er stieg in einen roten VW Golf, fuhr aus der Parklücke heraus und auf der Hauptstraße davon. Im Wegfahren sahen wir sein Nummernschild: EL-DY. So schöne vier feuerrote Ohren hatte Berlin si‑
cherlich selten gesehen. Unseren interessierten Nachbarn habe ich allerdings nie wiedergetroffen.