Werner Franke

 Begegnungen

Ganz unterschiedlich sind die Begegnungen mit der plattdeutschen Sprache, an die ich mich erinnere:

Es war in den Notzeiten der Nachkriegsjahre. Irgendwo am Rande des Moores nördlich der Stadt Osnabrück wohnte Heinrich Reutepöhler – Bauer, ehemals Infante­rist bei den „78ern”. Mein Vater kannte ihn noch aus den Kämpfen vor Verdun. Sie hatten sich immer gut verstanden, waren „Fründe”, die miteinander platt spra­chen. „Wusst Du oak ‘n Fund Botter mitniämen?”

Heinrich Reutepöhler wußte ja, weshalb wir die 30 Ki­lometer mit dem Fahrrad gefahren waren. Vor dem Kriege und noch in den ersten Kriegsjahren hatte er die „Tüffelkes” zu uns und anderen Kunden in die Stadt ge­bracht. Mit denen sprach er selbstverständlich platt, damals nichts Besonderes. Unsere Nachbarn sprachen es, meine Mitschüler auf dem Gymnasium, die „vom Lande” waren, und wir sprachen es alle, wenn wir besonders in Stimmung waren. Doch der Tonfall der Jungen aus den südlichen Dörfern des Emslandes war anders als der derjenigen aus dem Osnabrücker Land.

Auch wenn ich nicht aus einer „plattdeutschen” Familie stamme, lernte ich die Sprache doch bald lieben und so weit sprechen, daß mir das Verständnis keine Schwierigkeiten machte. Und in den Hungerjahren erwies es sich als überaus wertvoll, in gewissem Sinne sogar lebenswichtig, platt zu sprechen.

Viel später, Anfang der 70er Jahre, stand da hinter Haselünne ein Handwerksge­selle, wohl ein Maler, an der Straße. „Fährst Du naoh Berßen?” Er stieg zu mir in den Wagen, er arbeitete tatsächlich als Maler auf einem Neubau und wollte heim, nach Esterwegen. Wir kamen ins Gespräch, zunächst ein wenig mühsam, bis mir klar wurde, daß mein Fahrgast kaum Hochdeutsch verstand und nur platt sprach. Natürlich kann ich kein Esterweger Platt sprechen, aber immerhin verstehe ich es einigermaßen. Und so verstanden wir uns, bis er in Sögel ausstieg.

Winter 1983. Es war bitterkalt an diesem Abend. Mit dem hannoverschen Profes­sor Wilhelm Landzettel, der einen Aufsatz für das Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes schreiben wollte, war ich unterwegs nach Holte-Lastrup. Dort hielt an diesem Winterabend der Heimatverein seine Jahresversammlung ab. Dönkes wurden erzählt, natürlich in Platt, man unterhielt sich in derselben Sprache. Im Gespräch mit meinem Nachbarn kam die Rede auf benachbarte Dörfer: „Heel än-nere Lüe”, hieß es. Man spreche anders und denke anders.

Sommer 1998: In der Küche des Bauernhofes sitzen Nachbarn zusammen. Einer aus der Nachbarschaft wird 85, und man berät, wann und wie die „Naoberschup” gratulieren soll. Alle reden erst einmal durcheinander, in Platt, versteht sich. Vor­schläge werden gemacht: „Wat nemmt wie met un wat willt wi gewen? Wat hebbt wi’t leste Maol daone?”

 

Die da sprachen, waren zwischen dreißig und achtzig, fielen gelegentlich ins Hoch­deutsche, besonders wenn sie mit mir sprachen, aber schnell glitt man wieder hinüber in die vertraute Welt des Plattdeutschen. „Wi möt em oak ‘n Blömken metnemmen. Is einen dorkegen?” Nein, niemand war dagegen. Die Unterhaltung dieses Abends habe ich genossen, die Herzlichkeit dieser Sprache, die Vielfalt der Ausdrücke, den feinen Humor, der immer wieder einfloß. All das schuf eine At­mosphäre starker Gemeinsamkeit. So, dachte ich, muß das früher auf den Höfen gewesen sein, als man noch Zeit hatte und sie sich nicht vor dem Fernsehschirm stehlen ließ. Damals, als es noch Erzähler gab, die von Begebenheiten grauer Vor­zeiten berichteten, von Aulken und Riesen.

Februar 1992: Wir waren zu zweit auf einer Fahrt durch die Wüste Namibias vom rechten Wege abgekommen, kurz, wir hatten uns restlos verfahren, kamen in ein trockenes Flußtal, der Abend nahte. Was tun? Zwei Liter Wasser an Bord und kaum etwas zu essen. Endlich einige Ziegen, gehütet von einem schwarzen Hirten. Eng­lisch verstand er nicht. Deutsch? Auch das nicht. Ich versuchte es auf Platt. Da leuchteten seine Augen auf, er antwortete auf Afrikaans, beschrieb den Weg, „die Pad”. Wir hatten uns verstanden. Vor einer kalten Nacht waren wir noch einmal davongekommen.

Begegnungen mit einer Sprache sind immer Begegnungen mit Menschen. Da gibt es sichere Sprecher, die sich nicht um den Wortschatz bemühen müssen, denen keine niederländische oder englische Vokabel unversehens in die Rede fließt. Es gibt andere, die meinen, ein gutes Platt vertrage deftige Ausdrücke; das mag sein. Aber Anzügliches, Zweideutigkeiten, das ist nicht in der plattdeutschen Sprache, ist nicht traditionell begründet und auch nicht entschuldbar. Die „plattdeutschen Hu­moristen”, die uralte Witze mühsam ins Plattdeutsche übertragen – was die Schlüpfrigkeit nicht mindert -, bringen ihre Zuhörer meist nur zu einem mehr oder minder gequälten Lächeln.

Wie Humor fein und listig auf Platt vorgetragen werden kann, das habe ich vor gut 25 Jahren an einem Sommerabend auf Schloß Clemenswerth erlebt. Maria Mönch-Tegeder las aus ihrem soeben veröffentlichten Aufsatz über Nachbar­schaftsbräuche vor. „Up Noabers Patt dröf kien Gress wassen”. Durch eines der Fenster im Rundsaal fiel das Licht auf ihr feingekräuseltes silbergraues Haar, hinter dicken Brillengläsern funkelten die Augen, und in deren Winkeln saß der Schalk, als sie mit dem Sprichwort endete: „En guden Naober is mehr wert as en wieden Frönd.”