Vorwort zu “Wat, de kann Platt?”

Die plattdeutsche Sprache steht am Scheideweg – auch in der Grafschaft Bentheim und im Emsland.

Entweder wird sie in absehbarer Zeit ihre Existenzberechtigung verlieren und in den Zustand einer ganz und gar toten Sprache zurückfallen, oder aber sie findet doch noch die Kraft, sich von ihrem Siechtum zu erholen. So wahr­scheinlich auch erstere Möglichkeit erscheint, sie ist nicht zwangsläufig. Als Sprachträger spielen wir, die Menschen dieser Region, die entscheidende Rolle; wir haben das Schicksal durchaus in der Hand.

Uns, den Herausgebern dieses Sammelbandes, liegt das Plattdeutsche am Herzen, das – soweit wir es sehen – unter einem fatalen Mißverständnis leidet: dem Makel des Minderwertigen. Dem wollen wir entgegentreten. Die beste Werbung ist stets das authentische Zeugnis. Darum luden wir zu Beginn des Jahres 1998 Persön­lichkeiten ein, der Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen mit der Ursprache des hie­sigen Raumes zu erzählen. Sie alle stehen mit dem Emsland und der Grafschaft Bentheim in enger Verbindung – sei es, daß sie hier aufgewachsen sind und nun hier leben, sei es, daß sie von außerhalb hierherzogen, sei es, daß sie als Emsländer und Grafschafter nun irgendwo außerhalb tätig sind. Prominente und ge­wöhnliche Bürger; Bauern, Handwerker und Akademiker; Unternehmer und Ar­beiter – sie alle verbindet die plattdeutsche Sprache.

Wir waren überwältigt von der Resonanz auf unsere ungewöhnliche Bitte. Es war geradezu mit den Händen zu fassen, daß unser Anliegen sich mit Überlegungen deckte, die in vielen Köpfen heranreifen. Die Kapazität, die für ein solches Werk angemessen ist, mußte bis zur letzten Seite ausgeschöpft werden, um in immer neuen Varianten stets eines auszudrücken: Hoalt fast an’t Platt. Hier manifestiert sich eine ganz besondere Art Bürgerinitiative.

Die plattdeutsche Sprache ist eines unserer wichtigsten Kulturgüter. Dieser Land­strich ist nicht sehr reich damit gesegnet. Jahrhundertelang lag er fernab von Poli­tik, gesellschaftlichem Leben und Bildung; er führte sein bescheidenes Eigenleben. Geschichte wurde hier mehr erlitten als erlebt. Die Kargheit der Landschaft, die harte Arbeit der Menschen, alles Freud und Leid ihrer Lebenserfahrung hat sich in ihre Mundart eingegraben. Aber das Emsland und die Grafschaft Bentheim haben etwas aus sich gemacht. Sie können mit Stolz und Selbstbewußtsein auf ihre Ent­wicklung, ihre Leistungen und die ihrer Mitbürger blicken. Nun haben sie allen Grund, die überlieferten kulturellen Leistungen mit dem gleichen Selbstbewußt­sein, das sie sich in den vergangenen Jahrzehnten erworben haben, zu bewahren und das Erbe nach Kräften zu mehren.

In der Tat nehmen das Emsland und die Grafschaft Bentheim ihre kulturellen Chancen mit einem hochzuschätzenden Eifer wahr. Die entstehende Museums­landschaft, das hochaktive künstlerische Leben, aber auch die Heimathöfe mit ihrem regen Treiben, die Formensprache der Architektur sowie der Dorf- und Städ­teplanung – überall zeigt sich eine produktive Auseinandersetzung mit der Ge­schichte, aus der eine regionale Identität erwächst.

Die Möglichkeiten, die der plattdeutschen Sprache innewohnen, werden dabei je­doch noch nicht voll ausgeschöpft. Sicherlich hat die Mundart an Ausdrucksstärke verloren, an vielen Punkten den Anschluß an die neuen Zeitverhältnisse verpaßt. Dennoch: Ihr Wert wird auch unterschätzt. Da ergeht es der Mundart nicht anders als viele Jahre zuvor den alten Bauern- und Bürgerhäusern. Man ließ sie verfallen, degradierte sie zu Ställen und Scheunen. Man schämte sich ihrer, sie galten als un­modern. In der Tat waren sie oft unpraktisch, weil sie sich dem Einzug des Fort­schritts widersetzten. Doch irgendwann erkannte man, daß reine Nützlichkeit zu kurz greift. Man wurde sich der ideelen Werte und der besonderen Atmosphäre bewußt, die in den alten Mauern zu finden waren. Seither wird kräftig in den Er­halt der alten Häuser investiert; sie sind der ganze Stolz ihrer Besitzer, und viele Neubauten nehmen bewußt Stilelemente des niedersächsischen Ackerbürger-und Hallenhauses auf. So entwickeln das Emsland und die Grafschaft Bentheim zu einem gewissen Grade wieder einen eigenen, landschaftsprägenden Baustil. Eine schon totgeglaubte Tradition lebt wieder auf.

Der ideelle und atmosphärische Wert der regionalen Sprache steht dem der Archi­tektur, der Alltagskultur und der Kunst in nichts nach. Nirgends ist eine ernstzu­nehmende Rechtfertigung zu erkennen, die plattdeutsche Sprache gering zu schät­zen. Im Gegenteil: Dialekte sind lebendiger Ausdruck des gewachsenen Wesens der Menschen einer Region. Die Mundart entspricht der Emotion und dem Fühlen besser als das Hochdeutsche – oder anders ausgedrückt: Sie läßt Saiten zum Klin­gen kommen, die mit der hochdeutschen Sprache nicht berührt werden können.

Dieses Bewußtsein – so zeigen die Beiträge dieses Buches – findet zunehmenden Anklang. Die Aufholjagd bei der Angleichung der Lebensverhältnisse wurde eben nicht nur mit Vorteilen erkauft. So wichtig es war, Sprachbarrieren zu beseitigen, so unnötig ist die Tendenz, dem Plattdeutschen den Todesstoß zu versetzen. In vie­len der Lebensbeschreibungen der Autoren findet sich der schleichende, schmerz­lich empfundene Traditionsbruch wieder, als die Eltern zumeist auf Veranlassung der Schule das Plattdeutsche beiseite räumten und sich vornehmlich des Hoch­deutschen bedienten. Mit der Sprache wurde oft ähnlich rigoros verfahren wie bei Flurbereinigungen mit der Landschaft.

Der Unterschied ist jedoch: Die Landschaft erholt sich. Die geschlagenen Wunden wachsen zu. Bis zu einem gewissen Maß hat ein Rückbau eingesetzt. Die platt­deutsche Sprache hat es schwerer. Sie verliert in der Bevölkerung mit rasanter Ge­schwindigkeit ihre Basis. Wie schnell, darüber gab zuletzt eine Schüler- und El­ternbefragung zum Stand des Plattdeutschen im Emsland aus dem Jahre 1990 Aus­kunft. Diese wohl bisher umfangreichste Regionaluntersuchung, die mit erhebli­cher Unterstützung des damaligen Schulaufsichtsamtes und des Landkreises Emsland durchgeführt werden konnte, erfaßte alle damals zehnjährigen Kinder von Salzbergen im Süden bis hinauf nach Papenburg (insgesamt 3184 Mädchen und Jungen). Leider war seinerzeit die Grafschaft Bentheim nicht beteiligt. Das nüch­terne, aber sicherlich auch schockierende Ergebnis lautet: Nur noch drei von hun­dert Kindern konnten gut plattdeutsch sprechen, 42 Prozent unsere Mundart frei­lich noch gut verstehen.

Da auch die Eltern- und Großelterngeneration in die Untersuchung einbezogen war, konnte so erstmals der drastische Rückgang von 70 Prozent Plattsprechern bei den Großeltern über 55 Prozent bei den Eltern hin zu dem erschreckenden Er­gebnis bei den Kindern nachgewiesen werden.

Die Befragung gab jedoch auch Indizien dafür, daß es für eine Wiederbelebung noch nicht unbedingt zu spät ist. Unerwartet viele Väter und Mütter – die Rück-laufquote betrug 94 Prozent – bearbeiteten den ihnen zugestellten umfangreichen Fragebogen sehr genau und dokumentierten damit ihr Interesse am Erhalt des Kul­turgutes Plattdeutsch. Zugleich wurde die Wertschätzung dieser Sprache darin deutlich, daß sechs von zehn Elternpaaren (einschließlich der „Hochdeutschburgen” Lingen, Meppen und Papenburg) sich eine intensive Beschäftigung ihrer Kin­der mit dem Plattdeutschen in der Schule wünschten.

Das legt den Schluß nahe: Die überwiegende Mehrzahl der Eltern wagt es nicht, mit ihren Kindern in der Vorschulzeit plattdeutsch zu sprechen, da sie dann schu­lische Nachteile befürchten. Ist jedoch der Nachwuchs erst einmal in der Schule, sollte er nach dem Wunsch der Eltern möglichst schnell – so nebenbei – die heimi­sche Sprache erlernen. Es ist natürlich illusorisch anzunehmen, die Schule könne dies leisten. Hier können nur – wie in vielen anderen Bereichen auch – Elternhaus, Schule und Lebensumfeld gemeinsam etwas erreichen.

Wichtig wäre zum Beispiel, wenn die Großeltern-Generation an ihren Enkeln das Versäumnis wiedergutmachen würde, das sie heute im Bezug auf ihre Kinder be­klagt. Sie könnte die jüngste Generation noch am besten bewußt in die plattdeut­sche Sprache einführen. Für die damals umgehende Furcht vor schulischen Fehl­leistungen gibt es heute keine Berechtigung mehr. Lebensumfeld, Eltern und Me­dien sorgen in jedem Fall dafür, daß Plattdeutsch heute nicht mehr als Erst-, son­dern nur als Zweitsprache erworben wird.

Eine weitere wichtige Erkenntnis scheint dabei zu sein, daß wir in unserer Region mit einer ungeschriebenen Regel brechen müssen, die offensichtlich im außerge­wöhnlichen Respekt vor Fremden und Amtspersonen ihre Wurzel hat: Mit wem man einmal hochdeutsch redet, mit dem spricht man immer hochdeutsch. Die Beiträge dieses Buches und ihre Autoren sind eine Aufforderung, diese Attitüde ab­zulegen. Es ist keineswegs mehr ein Zeichen von Rückständigkeit, sich zu seiner Muttersprache – die es bei den aktiven Sprechern zumeist noch ist – zu bekennen. Im unmittelbaren Kontakt mit dem Plattdeutschen sind Leitungspersönlichkeiten in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur herangewachsen, die keinen Vergleich im In- und Ausland zu scheuen brauchen. Platt sprechende Emsländer und Grafschafter machen ihren Weg – auch davon legt dieses Buch Zeugnis ab.

Der Sammelband besticht durch seinen Facettenreichtum. Die Autoren nähern sich dem Thema aus den mannigfaltigsten Perspektiven. Biografisches wechselt mit Kultur- und Sprachgeschichtlichem, Politischem, Pädagogischem. Neben Wit­zen und Dönkes stehen lyrische Texte sowie sehr durchdachte Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft. Kurz: Entstanden ist ein bunter Blumenstrauß sprachli­cher Eindrücke und Erfahrungen – so bunt wie die Sprache selbst.

Wir danken allen, die zum Gelingen beigetragen haben. Von den Autoren erhiel­ten wir vielfältige Anregungen, die oft weit über den Rahmen dieses Buches hin­ausgingen. Ganz besonders hervorheben möchten wir Herrn Grave vom Emsländischen Heimatbund und Herrn Horstmeyer aus Nordhorn, die das Projekt mit Rat und Tat begleiteten und uns manche Tür öffneten. Ebenso Herrn Professor. Dr. Pott aus Nordhorn, der dem Buch mit seinen Illustrationen eine besondere optische No­te gibt.

Wenn so viele Menschen so intensiv über die Zukunft des Plattdeutschen nach­denken – wie kann einem da um die Sprache bange sein!

Emsbüren, im August 1998

Theo Mönch-Tegeder                           Bernd Robben