Wenn der Doktor kommen muß
Als ich als junger Arzt meinte, in der Grafschaft glücklich werden zu können – nicht gehindert durch die deutsche Sprache und sowieso nicht durch Kenntnisse des Plattdeutschen -, stieß ich schnell auf Probleme. Nicht nur, daß meine an der Universität eingeprägten Ideale schlecht über die Bühnenbegrenzung zu bringen waren, ich war dabei anscheinend auch noch schlecht zu verstehen.
Ermutigungen, es doch „up Hollansch te doun”, erbrachten auch keinen Erfolg, weil ich ein anderes Holländisch redete, verglichen mit der Sprache Kanaans, die man in reformierten Kreisen der Grafschaft beherrschte.
Ich war erst eine Woche in der Grafschaft, als Oma M. im Sterben lag. Sie war gut in den 90er Jahren und lebenssatt. Ihr Sohn, auch bereits Ende 60, nahm nach meiner Ankündigung, daß das Sterben nahe sei, die Statenbibel hervor und las Psalm 91. Mühsam, mit seiner tiefen Stimme, las der Sohn das antike Holländisch, und fügte damit für mich der Wahrheit am Krankenbett eine neue Dimension hinzu. Von dem, was sonst noch gesagt wurde zwischen der Oma und ihrer Familie, verstand ich kein Wort.
Langsam habe ich im Laufe der Jahre das Platt kennen- und liebengelernt – richtig sprechen nie, aber verstehen kann ich es gut. Auffallend blieb mir in all den 36 Jahren, daß auf Platt die Tatsachen des Lebens selten beim Namen genannt werden. Auf meine Empfehlung, doch lieber ins Krankenhaus zu gehen, sagte man selten „Nein”. „Da wok nig gerre”, oder – noch verwirrender – ein lang gezogenes „Joaa” bedeutete meistens, daß man absolut nicht vorhatte, den Vorschlag zu befolgen.
Und ging es dem Patienten besser, lautete die Antwort im Idealfall: „Et is nich lieder worden”. Ich war dann schon sehr zufrieden mit meinem Erfolg, aber es dauerte wohl einige Jahre, bis ich kapierte, daß dieser unterkühlte Ausdruck das Maximum der Gefühle ausdrückte.
Selbstmord heißt im Grafschafter Platt: „He häf sick te kort doane”, oder noch sanfter: „He is nig utludt”. Komisch fand ich auch, daß sehr alte und sehr kranke Patienten feminisieren, also verweiblichen – nicht nur als psychologisches Phänomen, sondern auch als Idiom: „See is zwoar zeek, Dokter!” – und dann war es der Opa, der ärztliche Hilfe brauchte.
Homophilie gab es nicht. Ein schon einigermaßen betagter Mann gab auf mein Befragen, warum er sich keine Frau gesucht habe, zur Antwort: „As se mi met Stickerdroat op een Wief bunden, dann konn eck der doch nicks met!”
„Kusenkellen” ist auf Platt so nahezu das Schlimmste, was man bekommen kann. Und ich habe entdeckt, man erfährt am meisten, wenn man versucht, jemandem auf Platt die eigenen Leiden mit den „Kusen” zu erzählen. Was man dann alles zu hören bekommt an menschlichem Leid und Leiden!
Ein alter Bauer war als Zeuge beim Schiedsgericht geladen. Zwei Nachbarn hatten sich in Anwesenheit des Bauern über einen Baum und dessen Verhältnis zum Grenzstein gestritten, und im Laufe des Gesprächs war es zu körperlicher Gewalt gekommen. Die große Frage war nun, wer hatte mit der Schlägerei begonnen. Der Bauer: „Eck har mie net umdreht un ek drehde weer trugge, an doar lagge see up-mekare un hoaden sick.” Nicht unschlau, denke ich.
Meine etwas krumme deutsche Frage, wie eine Patientin verkehrsmäßig ausgestattet sei, provozierte die Antwort: „Eer:moal toe Kermis en eenmoal toe Nee-joahr.” Und es war Anfang Januar und so nicht gemeint!
Ich bin überzeugt, daß das Grafschafter Platt auf ganz besondere Weise den Volkscharakter spiegelt. „Dokter, kunn ieh miene Fraow nich schonend biebrengen, dat se sterft?”, war so eine Bitte, mit der man versuchte, das Unabwendbare zu besänftigen. Konflikte werden so weit wie möglich gemieden. Im Notfall probiert man, das Problem vor sich herzuschieben, in der Hoffnung, daß es sich von allein löst.
Vergessen tut man aber auch nichts. „Wie kunt nich tegen joe proaten, wel tegen joe stimmen”, bekam ein Pastor zu hören, nachdem ein unbeliebter Vorschlag von seiner Gemeinde diskussionslos abgeschmettert wurde. Ich war gern Arzt in der Grafschaft, aber für kein Geld in der Welt hätte ich hier Pastor sein wollen!