Telefonbefragung im Auftrag des “ins” 1

Untersuchung 2007

In Nachfolge der GETAS-Untersuchung von 2004 wurde nach dem Entwurf
der drei Geschäftsführer des Institutes für Niederdeutsche Sprache (ins) 2007 eine weitere Befragung im gesamten niederdeutschen Sprachgebiet, das die acht norddeutschen Bundesländer umfasst, in Auftrag gegeben. Die Zusammenfassung der Ergebnisse durch Dr. Frerk Möller überrascht den Leser:

Die vorliegenden Daten zur aktuellen Situation des Niederdeutschen vermitteln das Bild einer noch durchaus vitalen Sprache.(1)

Es wird also der Eindruck einer (noch) lebendigen Sprache erweckt. Der erste Teil des zweiten Satzes ist
auch sicherlich problemlos und passt in dieses angeblich positive Bild. Aber dann kommt die Überraschung:

Das Niederdeutsche ist in Norddeutschland bekannt und beliebt, auch wenn es eher eine verstandene als gesprochene Sprache ist. (2)

Wie soll der kritische Leser diese Aussage deuten?

Hier muss nun doch genau das als Resultat festgestellt werden, was in der Befragung der damals Zehnjährigen im Emsland zum Erstaunen vieler Fachleute herausgefunden wurde: Das Sprechvermögen ist nahezu weg, aber Plattdeutsch wird noch von etwa der Hälfte der Heranwachsenden verstanden.
Diese sind nun mittlerweile zwanzig Jahre älter. Und daher muss man doch als Kenner des Plattdeutschen eindeutig festhalten:

Wenn eine Sprache eher verstanden als gesprochen wird, wie kann man sie dann als noch vital bezeichnen?

Schauen wir uns die ermittelten Zahlen der jüngeren Untersuchung genau an, dann wird die ganze Misere deutlich: 14 Prozent der Befragten geben an, sehr gut bis gut Plattdeutsch sprechen zu können. Die Antworten zum tatsächlichen Gebrauch müssen dann aber den Plattdeutschfreund schocken. Auf die Frage

Wann haben Sie sich das letzte Mal plattdeutsch
unterhalten?

geben lediglich zehn Prozent der Sprecher „heute“ an. 50 Prozent der Befragten erklären jedoch, vor etwa einem halben Jahr zum letzten Mal Platt gesprochen zu haben. (3) Das heißt doch: Nur 1,4 Prozent
der Plattsprecher haben diese Sprache als Alltagssprache. Hier muss man dem auswertenden Sprachwissenschaftler Dr. Frerk Möller als einem der drei Geschäftsführer des INS eine unseriöse Deutung der eindeutigen wissenschaftlichen Kerndaten der Untersuchung von 2007 vorwerfen.

Das Plattdeutsche ist keine vitale Sprache mehr.

Wenn kaum noch jemand sie sprechen kann (14 Prozent) und noch erheblich weniger Sprecher sie im
Alltag wirklich benutzen (1,4 Prozent), dann nützt es nur wenig, wenn noch ein gewisser Anteil der Bevölkerung sie versteht. In einer ähnlich die Fakten beschönigende Art war ja Prof. Dr. Stellmacher bei der Auswertung der GETAS-Befragung 1984 vorgegangen.

An dieser Stelle taucht doch nun für den interessierten Laien die Frage auf: Warum interpretieren renommierte Sprachwissenschaftler eindeutige Untersuchungsergebnisse in dieser Art? Da erfährt man von Insidern hinter vorgehaltener Hand:

Hier geht es zum einen offensichtlich um die Erhaltung und Ausweitung von Sendeanteilen in Rundfunk und Fernsehen, zum anderen um Besitzstandwahrung.

An den Universitäten dagegen schaut man den Realitäten ins Auge. So sind beispielsweise in Göttingen und Greifswald die Lehrstühle für Niederdeutsch inzwischen gestrichen worden. Die niederdeutsche Philologie befand sich in den letzten zehn Jahren in einer schwierigen, aber auch spannenden Umbruchphase, die immer noch andauert. Wer geglaubt hat, dass mit der Aufnahme des Niederdeutschen in die Sprachencharta eine signifikante Verbesserung der Situation des akademischen Faches Niederdeutsch verbunden sein würde, wird sich getäuscht sehen. Die Stellung des Niederdeutschen in der norddeutschen Hochschullandschaft ist weiterhin prekär (5).
Sehr viel unbefangener geht die Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Ingrid Schröder von der Universität Hamburg mit den Daten der Enquete von 2007 um: Während die über 50-jährigen sich noch zu 21 % eine sehr gute und gute Sprachkompetenz zutrauen, so sind es bei den 35-49-jährigen nur noch 12 % und bei den unter 35-jährigen nur noch 5 %. (6)
Diese heutigen 35jährigen, bei denen wir 1990 im Emsland als damals Heranwachsende drei Prozent aktive Plattsprecher ausgemacht hatten, haben also, wie wir es seinerzeit in der Auswertung schon prognostizierten, die niederdeutsche Sprache weder in den weiterführenden Schulen noch am
Arbeitsplatz und selbst nicht mehr im familiären Umfeld erlernt (allerhöchstens zu zwei Prozent).

1 Frerk Möller, Plattdeutsch im 21. Jahrhundert. Bestandsaufnahme und Perspektiven
(Schriften des Instituts für niederdeutsche Sprache, Bd. 34), Leer 2008, S. 83.
2 Ebd.
3 Ebd.
5 Andreas Bieberstedt, Niederdeutsch an den Hochschulen: Gegenwärtiger Stand und
Perspektiven, in: Plattdeutsch, die Region und die Welt. Wege in eine moderne
Zweisprachigkeit. Positionen und Bilanzen. Herausgegeben vom Bundesraat för
Nedderdütsch, Leer 2009, S. 38.
6 Ingrid Schröder, Zur Lage des Niederdeutschen, in: Mit den Regional- und Minderheitensprachen
auf dem Weg nach Europa. Herausgegeben vom Bundesraat för Nedderdütsch,
Leer 2011, S. 15.