Hedwig Wilken – Kewe

Vull makliker

Es war zum Kriegsende 1945. In Brümsel, einer kleinen ländlichen, 200 Einwohner zählenden Gemeinde, wur­de ich geboren. Die Geschwisterreihe war, wie auch in den Nachbarfamilien, sehr groß. Ich wurde als vierte Tochter geboren und hatte auch schon drei Brüder. Nach mir vergrößerten noch zwei Schwestern und drei Brüder unsere Familie. Außerdem gehörten in vielen Jahren zwei weibliche und zwei männliche Angestellte, ene groote un ene kläne Maacht un nen klänen un nen groten Knecht, zur Hausgemeinschaft.

Es war eine Zeit, in der getragene Kleidungsstücke aus‑

einandergetrennt und neu geschneidert wurden. Zu der Zeit wurde bei uns zum Mittagessen ein Glas Kirschen als Nachtisch geteilt, so daß jeder sieben Kirschen bekam. Es war aber auch eine Kindheit, in der sehr viel draußen gespielt wurde. In den Jahren um 1955 tanzten wir oft in der großen Bau­ernküche oder auf der Diele mit der Nachbarjugend.

In meinem Elternhaus wurde nur die plattdeutsche Sprache gesprochen. Ich kann mich nicht erinnern, vor meiner Schulzeit bewußt die hochdeutsche Sprache wahrgenommen zu haben. Mein Vater sagte dann wohl: „I könnt ja gar nich mehr önlick plattproten. Et hät nich Pilze, dat sint Pännstöhle, un dat sint nich Fliesen, dat sint Esterkes.” („Ihr könnte ja gar nicht mehr richtig plattdeutsch sprechen. Es heißt nicht Pilze, sondern Pännstöhle, und das sind keine Fliesen, sondern das sind Esterkes.”)

Mit der Fremdsprache Hochdeutsch wurden wir dann langsam in der Volksschule vertraut. Die Übergang hat mich keineswegs belastet. Die einzelnen Worte wur­den ja systematisch gelernt. Durch die Zusammensetzung der einzelnen Buchsta­ben entstand ein neues Wort. Diese Wörter waren dann zudem noch reichlich be­bildert dargestellt. Zum Beispiel spritzte beim Buchstaben I Wasser aus einer Pum­pe, und ein bunt gekleidetes Mädchen bekam unverhofft kaltes Wasser ins Ge­sicht. Es war interessant.

In meinem Jahrgang waren einige Flüchtlingskinder. Sie konnten sehr viel besser das richtige Wort finden und besser erzählen. Es passierte schon mal, daß man vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche übersetzte. Eine kurze Begebenheit dazu: Ein Mitschüler hatte heftige Bauchschmerzen und traute sich nicht, dies unserer Lehrerin mitzuteilen. Ganz mutig ging ich los und berichtete der Lehrerin: „Karl-Heinz hat Bauchpiene (Bauchschmerzen).” Ich habe mich geschämt, aber niemand hat gelacht. Für unsere Lehrerinnen und Lehrer gehörten solche Versprecher zum alltäglichen Leben. Ebenso war es zum Beispiel mit dem „mir” und „mich”, „dir” und „dich”, die verwechselt wurden. In der plattdeutschen Sprache heißt es da ein­fach „mi” und „di”.

1960 begann ich meine Banklehre. Die Kundschaft sprach zum großen Teil platt­deutsch. Es war ein großer Vorteil, von der plattdeutschen Sprache in die hoch­deutsche Sprache ohne Probleme zu wechseln. Ohne zu überlegen spricht man mit einer Person hochdeutsch und mit der nächsten plattdeutsch. Ich glaube, so wie man bei der ersten Begegnung mit einem Menschen spricht, so ordnet man ihn einer Sprache zu. Es kommt immer wieder vor, daß in Verwandtschafts- und Bekanntenkreisen Gesprächsrunden zusammentreffen, in der beide Sprachen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Mit dem Gesprächspartner zur rechten Seite unterhält man sich hochdeutsch und zur linken Seite plattdeutsch.

Seit 1991 bin ich Bürgermeisterin der 600 Einwohner zählenden Gemeinde Wett-rup. Auch hier sprechen noch viele plattdeutsch. So hat es Vorteile, beide Sprachen anwenden zu können. In den letzten Jahren fanden mehrere Treffen mit unseren holländischen Nachbarn statt. Unser Sportverein spielt einmal im Jahr gegen den Fußballverein Glane, Niederlande. Die Unterhaltung gestaltet sich dabei hervorra­gend plattdeutsch. Glane liegt hinter Gronau, gleich jenseits der Grenze. Die Gla-ner Bürger sprechen unseren Dialekt. Interessant ist, daß im Gebiet zwischen Gla-ne und Wettrup ein anderer Dialekt, nämlich der westfälische, gesprochen wird.

Als Gästeführerin des Touristikvereins der Samtgemeinden Freren-Lengerich-Spel-le empfange ich auch Besucher, die aus ländlichen Gegenden kommen. Sie kön­nen dann wählen, in welcher Sprache sie unser Dorf und unsere Region kennen­lernen wollen. Oft wird dann der Wunsch nach einer plattdeutschen Führung geäußert.

1969 heiratete ich meinen Mann, und seit 1970 bin ich Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft. Im landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten wir auch mit niederlän­dischen Geschäftspartnern zusammen. Zunächst verständigt man sich hoch­deutsch. Wenn die Niederländer dann feststellen, daß mein Mann und ich platt­deutsch miteinander sprechen, kommt häufig der Ausspruch: „I künnt Plattdütsk? Dann künn wi dat ja vull makliker häbben.” („Sie können Plattdeutsch? Dann kön­nen wir das ja viel einfacher haben.”)

In unserem Familienbesitz befinden sich sehr viele alte Dokumente. Es beginnt mit dem Freikaufdokument aus dem Jahre 1664. Unter anderem sind auch Schrift­stücke vom Amtsgericht Freren aus den Jahren um 1790 vorhanden. Hier war es besonders schwierig, den Inhalt zu lesen. Zunächst bereiteten die Schrift und dann die unverständlichen Begriffe Probleme. Bekannte aus Belgien/Flandern, die nie­derländisch sprechen, konnten hier weiterhelfen. Die Amtssprache war zur Ora-nierzeit in der Niedergrafschaft Lingen nämlich Niederländisch.

Meine Ausführungen haben, so meine ich, schon dargelegt, daß ich die plattdeut­sche Sprache sehr schätze. Sie hilft mir, im täglichen Leben mit den älteren Mit­bürgern oder auch im politischen, geschäftlichen Bereich eine gewisse Nähe zu schaffen. Die plattdeutsche Sprache verbindet uns mit vielen Volksgruppen. Es wä­re nicht wieder rückgängig zu machen und daher sehr schade, wenn unsere Ge­neration die von unseren Vorfahren überlieferte Sprache nicht weitergeben wür­de. Mein Mann und ich möchten gerne mit unseren Enkelkindern, die wir jetzt noch nicht haben, plattdeutsch sprechen.

Kinder können sehr wohl zweisprachig aufwachsen. Nur muß es meiner Meinung nach gewährleistet sein, daß verschiedene Sprachen den Personen konsequent zu­zuordnen sind. Kinder müssen wissen, daß sie dann, wenn sie zum Beispiel mit Oma und Opa sprechen wollen, auch nur in Plattdeutsch verstanden werden. Lei­der haben wir um 1970 bis 1980, als unsere Kinder geboren wurden, nicht so ge­handelt. Damals glaubten mein Mann und ich, daß Kinder nur hochdeutsch oder nur mit der plattdeutschen Sprache aufwachsen können. Sie verstehen uns sehr gut, wenn auf dem Betrieb plattdeutsch gesprochen wird. Aber untereinander sprechen sie ausschließlich hochdeutsch. Ich merke es nicht, wenn ich mit mei­nem Mann plattdeutsch und mit den Kindern und den Auszubildenden automa­tisch hochdeutsch spreche; das läuft im Unterbewußtsein ab.

Einige Chöre singen oft plattdeutsche Lieder, und in den Schulen und Volkshoch­schulen wird seit einigen Jahren wieder Plattdeutsch und Niederländisch angebo­ten. Ersetzen können der Gesang und der Fremdsprachenunterricht die plattdeut­sche Muttersprache nicht. Sie muß im täglichen Leben lebendig bleiben.