Adelheid Hanneken-Heidelberg

Papenburg, die Völkermühle an der Ems

EPSON MFP image

„Das müßtest du eigentlich aufschreiben”, hieß es oft, wenn ich einmal wieder eine Geschichte von früher er­zählte. Warum eigentlich nicht? Und als ich mich be­sann, was bei mir so alles hängengeblieben war von früher, fiel mir auf: das habe ich plattdeutsch gehört, und wenn es gut ankommen soll, muß es plattdeutsch geschrieben werden!

Bald wurde mir klar, Plattdeutsch ist keine Schriftsprache. Um mein Papenburger Platt aufzuschreiben, mußte ich in mehrere Wörterbücher schauen. Meine Hei­matstadt war durch Torfgewinnung und Schiffbau zu einer Art Völkermühle an der Ems geworden. Oldenburger, Ostfriesen, Niederländer und auch Franzosen und Engländer haben hier ihre Spuren hinterlassen. Zum Glück fand ich Anschluß an Leute aus dem Emsland und Ostfriesland, die sich zu einer „Schreibwerkstatt” zu­sammengetan hatten.

Im Gespräch mit den Schreibern stellte ich folgendes fest: Leute, die aus kleineren Ortschaften stammen, haben einen viel größeren plattdeutschen Wortschatz als die aus größeren. Für Papenburg kann ich mit Bestimmtheit sagen, daß man viele Ausdrücke weggelassen und lieber eine „Übersetzung” aus dem Hochdeutschen vorgenommen hat. Man galt als grob und ungebildet, wenn man die überkomme­ne Sprache wortgetreu sprach. Beispiel: Tofel – Tisch – Disk.

Das Plattdeutsche galt auch in meiner Kinderzeit als Zeichen, wenig begütert und angesehen zu sein. Das wollte man vermeiden. Dadurch gerieten viele typisch plattdeutsche Ausdrücke, die sich eben nicht so einfach übersetzen ließen, in Ver­gessenheit. In Ostfriesland dagegen ist das Plattdeutsche viel präsenter. Die Ost­friesen sind für die Bewohner unserer Straße unmittelbare Nachbarn, uns trennt nur ein Graben. Von daher muß ich zum Thema „Plattdeutsch im Emsland” auch die Entwicklung bei unseren Nachbarn heranziehen.

Wie war die sprachliche Entwicklung bei mir? Ich wuchs als Einzelkind bei Onkel und Tante auf. Man sprach mit dem Kind hochdeutsch, wahrscheinlich die Höhe­re Schule schon im Hinterkopf. Es war ein Hochdeutsch, das plattdeutsch gedacht war und daher grammatikalisch falsch sein mußte. Meine Umgebung sprach platt; so wuchs ich zweisprachig auf.

Tatsächlich konnte ich dann das Gymnasium besuchen und mußte beim Sprechen oft korrigiert werden. Mit dem Schreiben ging es besser, schließlich wurde ja Rechtschreibung gelehrt. Mit der Zeit hatte ich auch im mündlichen Ausdruck kei­ne Schwierigkeiten mehr. Nun aber fiel es mir auf, wenn ich meine Familie die ty­pischen Fehler sprechen hörte. Ich war unklug genug, sie mit meinem „Besser-wissen” (wie sie sagte) zu verärgern. Warum sprach man nicht so, wie man’s am besten konnte?

Viel später fand ich die Antwort. Im Plattdeutschen kennt man die Artikel „der, die, das” nicht, nur „de”. Ja, wie dann nun? Den Artikel einfach weglassen! So kamen Sätze zustande wie „Ich geh nach Kirche”. Oder die Mutter zum Kind: „Lauf nicht auf Straße!” Ich vermute, durch die seit Generationen geführte Zweisprachigkeit hält sich dieser Fehler hartnäckig – auch bei denen, die hochdeutsch sprechen; sie übernehmen den falschen Satzbau.

Heute ist die Umgangssprache in meiner Familie und näheren Umgebung Platt­deutsch. Natürlich habe auch ich mit meinen Kindern hochdeutsch gesprochen ­gleichzeitig mit anderen plattdeutsch. So wuchsen meine Kinder auch zweispra­chig auf. Es laufen meist Gespräche, bei denen – je nach Bedarf – munter von Hoch zu Platt gewechselt wird, und man bemerkt es meistens nicht einmal. Wenn mir im Hochdeutschen mal der treffezde Ausdruck fehlt, wechsele ich kurzerhand ins Plattdeutsche. Mitunter ist der Ausdruck viel treffender und meistens nicht so scharfkantig, verletzend.

An einem schönen Sommertag machten wir eine Auto-Fahrradtour von Ditzum aus. Als wir am Deich Rast machten, hörte ich nebenan eine Oma mit ihrer Enke­lin platt sprechen. Wir kamen ins Gespräch. „Ja”, meinte sie, „meine Enkel sollen plattdeutsch sprechen. Inzwischen darf man das ja wieder.” „Darf?” „la, Platt­deutsch ist wieder in. Bei meinen Kindern war das noch anders. Der Lehrer mei­nes Sohnes erklärte mir eines Tages: ,Ihr Kind beherrscht seine Muttersprache nicht.’ – ,Sien Maudersprook, de kann he heil fix, kann ween, dat he mit de Amts-sprook noch nich torecht kummt, habe ich gesagt.”

Das ist es, was ich mir wünsche. Leute, die plattdeutsch denken und träumen, müssen auch so sprechen dürfen, frei und offen. Es ist ihre Muttersprache!