Manfred Freiherr von Landsberg-Velen

Es war der Selbsterhaltungstrieb

Meine größte Erfahrung mit dem Plattdeutschen war beziehungsweise ist: Man kann es lernen, wenn man es spricht. Geboren im Jahre 1923 in Dankern, wuchs ich in einer Familie auf, in der nur hochdeutsch gespro­chen wurde. Obwohl mein Vater ebenfalls schon in Dankern geboren war, hatte er keine Gelegenheit, platt zu sprechen oder zu lernen. Auch meine Mutter sprach, da aus dem Sauerland stammend, kein platt.

Erst mit sechs Jahren, zum Schulbeginn, merkte ich, daß ich mich mit vielen Gleichaltrigen nicht beziehungsweise nur kaum verstän­digen konnte. Zwei Sprachen – ich betrachte Platt als eine Sprache – standen sich gegenüber: Platt und Hochdeutsch. Ich fühlte mich fein heraus, denn angeblich sprach ich ja schon Hochdeutsch. Aber in den Pausen und auch sonst stand ich fast immer allein. Das war für mich keine Lösung. Also hörte ich zu und versuchte, mich radebrechend in Platt verständlich zu machen. Für mich war es kein Ler-nenmüssen, sondern der Selbsterhaltungstrieb, mit dabei sein zu können. Vertieft wurde das Bedürfnis, Platt zu verstehen und zu sprechen, da ich in der damaligen Jugendorganisation voll involviert war und damit noch mehr dazugehören wollte und mußte. Ich habe Platt nicht gelernt um des Lernens willen, sondern weil ich es können mußte, um dabei sein zu können.

Und dabei machte ich meine zweite Erfahrung. Die platt sprechende Bevölkerung, und das waren alle Emsländer auf dem Lande, scherte sich einen Dreck darum, ob oder wie einer platt sprach. Sie sprachen es, und die anderen hatten sich danach zu richten. Ich bin also nie geärgert oder gehänselt worden ob meiner Plattkünste. Man nahm das als selbstverständlich hin. Ich verstand sie und sprach „Platt”, also was soll’s.

Eine dritte Erfahrung habe ich mit Platt gemacht. Fünf Jahre Krieg und Gefangen­schaft sowie anschließend eine dreijährige landwirtschaftliche Lehre als Ausbil­dung in anderen Bundesländern – also fast acht Jahre, in denen ich so gut wie kei­ne Gelegenheit hatte, platt zu sprechen – haben mich nicht gehindert, nach der Übernahme des landwirtschaftlichen Betriebes in Dankern ohne Hemmungen im Betrieb nach Möglichkeit nur platt zu sprechen. Ich hatte es also nicht verlernt. Nur glaube ich, Plattdeutsch kann man nicht lernen wie eine Fremdsprache, man hört es und spricht es. Ohne jegliches Nachdenken ist dann das Wort, der Aus­druck, der Tonfall, das Verstehen richtig. Man muß sprechen, weil man es will. Und ich wollte.

Eine letzte Erfahrung: Durch Heirat und berufliches Engagement war ich fast 30 Jahre nur sporadisch und dann sehr kurz in Dankern, so daß ich ebenfalls wieder keine Gelegenheit hatte, platt zu sprechen. Und als ich Anfang der achtziger Jahre wieder ganz in Dankern wohnte, da konnte ich wieder platt sprechen. Zwar hol­perig, und es muß sich eher komisch angehört haben, aber ich sprach und spreche platt.

Da ich ein Fan des Plattdeutschen bin, die Sprache so gemütlich und ursprünglich empfinde, spreche ich viel platt im Betrieb mit all den einheimischen Mitarbeitern, aber auch, wenn es geht, mit der Bevölkerung. In unserem Betrieb wird auch weit­gehend platt gesprochen, was die Urlaubsgäste höchst verwundert, denken sie doch, es würde holländisch gesprochen. Mit Platt ist man sofort eingebunden in die Gemeinschaft, denn die Anrede in Platt kennt nur das „Du”, das „Sie” gibt es nicht. In besonders gelagerten Fällen wird ein „Ih” gesprochen.

Unterschiedlich ist heute das Engagement, das Plattsprechen der Jugendlichen, aber ich glaube, es wird nicht weniger. Ausschlaggebend ist allerdings der Einfluß des Elternhauses. Da mein Sohn in Westfalen geboren und aufgewachsen ist und dort auch die Schule besucht hat, wird zu Hause kein Platt gesprochen; er kann es verstehen, aber nicht sprechen.