Die Niederdeutsche Bauernsprache (1964)

von Dr. Dr. h. c. Wilhelm Seedorf, o. ö. Prof. em. Göttingen

in: Die Landwirtschaft Niedersachsens 1914 – 1964, Seite 160 f

herausgegeben von der Albrecht – Thaer – Gesellschaft, Celle 1964

Des Volkes Seele lebt in seiner Sprache. Die Sprache ist eines unserer wichtigsten Kulturgüter. Die Bauern, das Landvolk in Niedersachsen, sprechen noch heute zum großen Teil plattdeutsch. Seit über 300 Jahren befindet sich diese — unsere Muttersprache — im Rückgang und im Verfall. In den Städten ist sie leider schon weitgehend ausgestorben. Kürzlich hat aber eine statistische Erhebung in Hamburg ergeben, daß dort noch 51 0/0 der Bevölkerung plattdeutsch sprechen können. Staat, Schule und Kirche haben die Niederdeutsche Sprache seit Jahrhunderten schwer vernachlässigt und unterdrückt. Die Sprache der Behörden, der Schule und der Kirche, auch der Zeitungen und der. Literatur, ist hoch­deutsch. In den letzten 100 Jahren hat allerdings die neue Niederdeutsche Bewegung — begründet durch Klaus Groth, Fritz Reuter und andere —einen kleinen Aufschwung gebracht. Aber in den Bauern- und Arbeiter­häusern auf dem Lande dringt die hochdeutsche Sprache als Familien­sprache immer weiter vor.

Vor einem halben Jahrhundert war die plattdeutsche Sprache noch in fast allen Gegenden Niedersachsens die Sprache der Bauern und der Dörfer. In den landwirtschaftlichen Organisationen, landwirtschaftlichen Vereinen, Genossenschaften usw. war aber auch die hochdeutsche Sprache ganz selbstverständlich die Verhandlungssprache. Vorträge wurden nur in ihr gehalten. Es herrschte die Auffassung, daß man sich über wissen­schaftliche Fragen der Landwirtschaft nur in hochdeutscher Sprache aus­drücken könne. Wenn man in einen landwirtschaftlichen Verein kam, unterhielten sich vor Beginn der Sitzung die Bauern selbstverständlich in ihrer plattdeutschen Muttersprache. Nach Eröffnung der Sitzung sprachen plötzlich alle hochdeutsch, unterhielten sich leise aber plattdeutsch. Vor­trag und Aussprache waren hochdeutsch. Nach Schluß der Versammlung sprach wieder alles plattdeutsch. Das hat mich dazu gebracht, seit 1912 meine landwirtschaftlichen Vorträge in Niederdeutschland nur noch platt­deutsch zu halten. Die Aussprache wurde dadurch erheblich reger, beson­ders bei denen, die sonst ständig plattdeutsch sprachen.

Über den Bestand der plattdeutschen Sprache vor 50 Jahren haben wir keine verläßlichen Zahlen. Ich habe mich lange Zeit vergeblich bemüht, bei der Volkszählung, die z. B. nach dem Gebrauch der dänischen, franzö­sischen und polnischen Sprache fragte, die gleiche Frage auch für die plattdeutsche Sprache zu erreichen. Das wurde abgelehnt, weil plattdeutsch doch nur eine Mundart sei. Die Niederdeutsche Sprache ist aber — wie ihre nächsten Verwandten Niederländisch und Flämisch — eine eigenständige Sprache, auf die wir nach dem Grundgesetz Artikel 3, Absatz 3, einen klagbaren Anspruch haben.

Es ist mir in den letzten Jahren gelungen, mit Hilfe der Landwirtschafts­kammern und der Landwirtschaftsschulen wenigstens eine annähernde Vorstellung über den Bestand der plattdeutschen Sprache in den Bauern­häusern und Dörfern Niedersachsens zu erhalten. Dadurch, daß ich den Schülern und Schülerinnen 8 Fragen vorgelegt habe über die Umgangs­sprache mit den Eltern, die Umgangssprache der Eltern unter sich, die Umgangssprache der alten Generation im Dorf und die der jüngeren. Weiter habe ich gefragt, wie weit plattdeutsch verstanden wird, ob platt­deutsche Schriftsteller gelesen werden und ob die plattdeutsche Sprache in der Volksschule und in der Landwirtschaftsschule gebraucht wurde.

Für den Bereich der Landwirtschaftskammer Hannover, in dem 1 708 Schüler befragt wurden, hat sich insgesamt dabei folgendes herausgestellt: Die Eltern sprachen mit ihren Kindern zu 47 °/o plattdeutsch. Die Eltern sprachen zu 63 °/0 untereinander plattdeutsch. Die Alten im Dorf sprachen zu 93 % plattdeutsch, die Jungen (Jugend) nur noch zu 45,3 %. Plattdeutsch wurde von 94 % der Schüler verstanden. Plattdeutsche Schriftsteller zu 20% gelesen. Die plattdeutsche Sprache wurde in der Volksschule zu 5,7 % und in der Landwirtschaftsschule zu 3,4 %  gebraucht.

Die Lage war aber in den beiden Kammerbezirken Hannover und Olden­burg kreisweise außerordentlich verschieden. Auf die Frage: Sprechen Sie mit Ihren Eltern plattdeutsch?, antworteten über 90 0/o mit „Ja” in den Gebieten der Landwirtschaftsschulen Bremervörde, Zeven, Soltau, Sulin-gen, Nienburg, Stolzenau und Uchte, desgleichen Aurich, Wittmund, Leer, Delmenhorst, Huntlosen, Aschendorf, Esterwegen, Sögel, Lathen, Cloppenburg, Meppen, Holte, Löningen, Vechta, Bentheim, Lingen, Lengerich, Freren und Emsbüren. Dagegen sprachen unter 25 % der Eltern mit ihren Kindern plattdeutsch in den Gebieten der Schulen Hannover, Rinteln, Springe, Peine, Braunschweig, Helmstedt, Wolfenbüttel, Hildesheim, Goslar, Holzminden, Gandersheim, Einbeck, Osterode und Northeim. Bei Goslar waren es 2 %, bei Hildesheim 4 %. Wesentlich günstiger war es im Oldenburger Gebiet. Die geringsten Zahlen weisen folgende Schulen auf: Wehner 39 %, Quakenbrück 39 %, Bohmte 37 %, Melle 36 %, Haste 35 %.

A.m schlimmsten sieht es also in Süd-Hannover aus. Ich hatte bei der ersten Erhebung der Kammer Hannover noch die Frage gestellt: Sprechen die Schüler mit den Dorfbewohnern plattdeutsch? Dafür sind die Zahlen in allen Gebieten wesentlich günstiger. So wurde bei der Schule Tostedt festgestellt, daß 58 % der Schüler mit den Eltern plattdeutsch sprechen, aber 80 %im Dorf. Für Hoya ist das Verhältnis 65 zu 96 %, für Lüneburg 66 zu 77 %, für Bergen 75 zu 89 %, für Hildesheim 4 zu 15 %, für Göttin­gen 49 zu 62 %, für Hann. Münden gleichmäßig 72 %.

Für den Bezirk der Landwirtschaftskammer Oldenburg hatte ich die Frage gestellt: Sprechen die Eltern unter sich plattdeutsch? Für weitaus die meisten Kreise lautet die Antwort: 90-100 % ja. Beim Umgang mit den Kindern sind die Zahlen wesentlich ungünstiger. Für die Schule Els-würden sind es 45 %, während die Eltern zu 98% untereinander platt­deutsch sprechen. Die Zahlen sind für Jever 61 zu 81 %, Wehner 39 zu 92 %, Quakenbrück 39 zu 78 %, Melle 36 zu 80 %, Iburg 66 zu 90 %.

Zurückkommend auf die vorhin behandelte Frage, wie es mit der weiteren Zukunft unserer plattdeutschen Bauernsprache in Niedersachsen bestellt ist, kann verwiesen werden auf zwei Ergebnisse der Erhebungen. Die Alten im Dorf sprachen zu 93 % plattdeutsch, die Jugend aber nur noch zu 45,3 %. Bei der Fortsetzung dieser Entwicklung wird also in weiteren 50 Jahren die plattdeutsche Sprache in den Dörfern um die Hälfte zurückgehen. Das bedeutet einen schweren Rückschlag für Leben und Kultur des Landvolkes, aber eine ebenso große Verarmung der gesamtdeutschen Kultur.

Es ist sehr erfreulich, daß in den letzten Jahren Schule und Kirche den Wert der plattdeutschen Muttersprache entdeckt haben und gewillt sind, sie zu pflegen mit plattdeutschem Unterricht und plattdeutschen Gottes­diensten. Selbst im Landtag wurde kürzlich einmal plattdeutsch ge­sprochen. Was aber an der Wurzel, d. h. in den Bauernhäusern und Dörfern verlorengeht, wird auf diese Weise schwerlich zu ersetzen sein.

Es kommt also darauf an, den Bauern ihre plattdeutsche Muttersprache wieder lieb und wert zu machen.