Hilfe aus Brüssel
In meinem Elternhaus in Oberlangen wurde nur plattdeutsch gesprochen, und zwar nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch mit allen, die auf unserem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiteten. Die Heuerleute, die Knechte und die Mägde kamen ja alle aus der hiesigen Gegend. Deshalb sprachen sie wie die ganze Nachbarschaft und das ganze Dorf unser emsländisches Platt.
Erst als wir in die Volksschule kamen, lernten wir, hochdeutsch zu sprechen und zu schreiben. Im ersten Schuljahr mußte der Lehrer noch manchmal als Dolmetscher einspringen, doch bald waren die Schwierigkeiten überwunden, und unsere eigentliche Muttersprache hat uns später keine schulischen Nachteile mehr gebracht.
.Nach Kriegsbeginn suchten viele Niederländer aus dem Raume Ter Apel Arbeit in Deutschland. Sie galten als Spezialisten für das Anlegen der Gräben von Hand und wurden wegen ihrer exakten Arbeitsweise gerne eingestellt. Da sie Groninger Platt sprachen, das unserer Heimatsprache außerordentlich ähnlich ist, war die sprachliche Verständigung kein Problem. Interessant war es auch für uns Kinder, wenn in den folgenden Jahren der dienstverpflichtete Pole, der schon länger bei uns auf dem Hofe beschäftigt war und unser Plattdeutsch einigermaßen beherrschte, sich mit den französischen Kriegsgefangenen in dieser Sprache unterhielt. Wenn die Worte nicht reichten, nahm man Hände und Füße zur Hilfe, und wir Kinder freuten uns, wenn wir bei fehlenden Worten behilflich sein konnten.
Als Soldat hatte ich mit Menschen aus allen Teilen Deutschlands zu tun. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, daß die niederdeutsche Sprache doch eine schnellere persönliche Verbindung herstellt. Hörte man die vertrauten Klänge der heimatlichen Sprache, war schnell Vertrauen geschaffen, und alle Vorbehalte waren verschwunden. Für mich war es auch erstaunlich, wie schnell die Kinder der Flüchtlinge, die nach dem Kriege in unserem Dorf wohnten, das Plattdeutsche erlernten. Aus welcher Gegend sie auch in das Emsland verschlagen worden waren, in der Sprache gab es bei den Kindern bald keinen Unterschied mehr.
Gern erinnere ich mich an die Weltausstellung 1958 in Brüssel. Zur Ausstellungszeit war es sehr schwer, in der Stadt eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Wir waren vier Emsländer und steuerten mit unserem Auto einen der Riesenparkplätze an, und wir hatten großes Glück. Es gelang uns nicht nur, einen Parkplatz zu finden, sondern der Chef des Platzes bot uns sogar eine Übernachtungsmöglichkeit bei sich zu Hause an. In seinem rheinländisch gefärbtem Deutsch
schlug er uns vor, nach 22 Uhr mit ihm zu seiner Wohnung zu fahren. Unterwegs habe er allerdings noch die Tageseinnahmen abzuliefern, was ungefähr 15 Minuten dauern würde.
Zu unserem großen Erstaunen stieg er dann nach Feierabend ganz unbekümmert mit seinem Geldkoffer zu uns vier Fremden in den VW. Vertraute er uns, weil ihm unsere Sprache vertraut vorkam? Denn als wir uns beim Abendessen auch weiterhin auf Platt unterhielten, waren wir noch mehr erstaunt, daß seine Frau uns verstehen konnte und mit uns lachte und diskutierte. Sie kam gebürtig aus Flandern, und so gab es keine Verständigungsschwierigkeiten. Als wir uns dann bei unserer Abreise mit einem Präsent von ihr in unserer und ihrer Heimatsprache verabschiedeten und uns für die freundliche Aufnahme und hervorragende Bewirtung bedankten, hat sie sich riesig gefreut.
Während meiner langjährigen politischen Tätigkeit hatte ich viel mit Vertretern von Behörden und Dienststellen zu tun. Gefreut habe ich mich immer, wenn ich meine Anliegen – auch in den Jahren, als die heimische Sprache eher verpönt war – in emsländischem Platt vortragen konnte. Das wirkte sich oft positiv aus. Manchmal beneideten mich geradezu andere Abgeordnete, weil ich mit meinem Platt unangenehme Dinge sehr deutlich sagen konnte, ohne daß mir das übel genommen wurde. Besonders in ländlichen Gegenden sind ja auch heute noch viele plattdeutsche Redewendungen und Sprichwörter im täglichen Sprachgebrauch.
Wenn der in Niederlangen geborene und 1960 in Freiburg gestorbene Kirchenrechtler Professor Dr. theol. Nikolaus Hilling in seinem Geburtsort weilte und sich mit jungen Leuten unterhielt, war er oft erbost darüber, daß sie manche der uralten plattdeutschen Ausdrücke nicht mehr kannten. Er legte großen Wert darauf, daß seine Muttersprache in der ganzen Bandbreite erhalten blieb. Vielleicht waren ihm auch alte sprachliche Wendungen noch vertraut, weil sich auf dem Einzelhof Hilling gewisse Ausdrucksformen länger erhalten hatten.
Hinweisen möchte ich noch auf emsländische Dichter, Erzähler und Lyriker, die oft auch in plattdeutscher Sprache auf die landschaftlichen Schönheiten des Emslan-des, das besinnliche Wesen der Bewohner, auf Heimatliebe, Sitten und Gebräuche in heimischer Eigenart aufmerksam gemacht haben. Die Pflege unserer plattdeutschen Muttersprache ist sehr geeignet, das kulturelle Leben unserer ländlichen Bevölkerung in hohem Maße zu bereichern und die Menschen mit ihrer Heimat zu verbinden. Allein diese Aufzeichnungen sind Grund genug, „use Platt nich ver-kaomen tau laoten”.