Walter Remmers

Der Effekt der Nähe

Aufgewachsen bin ich in Papenburg an der Wiek in ei­ner gemischtsprachigen Familie. Wir lebten zusammen mit Großmutter, lediger Tante und natürlich den Eltern und drei Geschwistern. Die Wiek, die in Papenburg zwischen dem Untenende und dem Obenende lag, war auch als Straße ein sprachliches Mischgebiet. Es wurde plattdeutsch gesprochen und selbstverständlich auch verstanden, aber es gab ganz wesentliche Hochdeutsch-anteile. In unserem Elternhaus bemühten sich die El­tern, die untereinander und mit der Großmutter platt­deutsch sprachen, mit uns Kindern hochdeutsch zu sprechen, schon um uns auf die hochdeutsche Schule vorzubereiten.

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Wenn ich es in Prozenten ausdrücken sollte, war unser Sprachwissen im Ergebnis in Kombination Schule, Le-bensi«. Straße und Familie 60 Prozent hochdeutsch und 40 Prozent platt­deutsch. Mit dieser Mischung kamen wir allerdings in der zum Obenende stärker plattdeutsch sortierten Gesellschaft durchaus gut klar. Wenn man das Erlebnis in Familie, Lebensraum Straße und Schule als die erste Begegnung bezeichnen will, war für mich die zweite Begegnung mit dem Plattdeutschen meine Tätigkeit als Hilfsarbeiter auf der Meyer-Werft in Papenburg. Unmittelbar nach dem Abitur er­hielt ich die Gelegenheit, dort zu arbeiten und so die finanziellen Voraussetzun­gen für ein Studium zu schaffen. Hier geriet ich nun allerdings in eine rein platt­deutsche Welt. Plattdeutsch war die einzig akzeptierte Umgangssprache unter den Schiffbauern und deren Gehilfen. Ich erinnere mich noch sehr genau an ein Er­lebnis, bei dem ich mit einem früheren Schulkameraden, der nach dem Einjähri­gen abgegangen war und Schiffbauer gelernt hatte, mich hochdeutsch unterhielt. In diese Situation kam ein anderer Schiffbauer, der in meiner Gegenwart wieder­um plattdeutsch meinen Freund fragte: „Sech erst, is dat’n Flüchtling, of woarum prot de nich platt?”

Diese stringente Sprachlinie wurde so weit durchgehalten, daß selbst die aus dem Osten vertriebenen Sachsen und Schlesier sich über kurze Zeit bemühten, platt­deutsch zu sprechen – mit manchmal durchaus humoristischem Einschlag. Was natürlich den Mecklenburgern und Pommern, ja selbst den Ostpreußen sehr viel leichter fiel, wirkte – wie man sich vorstellen kann – bei gestandenen Sachsen et­was eigenartig. Neben der Tatsache, daß meine Tätigkeit als Schiffbauhilfsarbeiter, die ich über mehrere Semesterferien von 1954 bis 1958 ausübte, mir auch sehr viel andere Lebensweisheiten vermittelt hat, ist es doch so, daß ich behaupten möchte, meine eigentliche plattdeutsche Schule war die Arbeit in diesem Umfeld, wobei allerdings ein reines Papenburger Plattdeutsch nicht entstehen konnte, denn auf der Werft mischten sich natürlich starke ostfriesische Elemente in die plattdeutsche Sprache ein. Schließlich verteilte sich die Beschäftigtenzahl etwa 50 zu 50 auf das Emsland und Ostfriesland.

Zuvor allerdings war der Sinn für das Plattdeutsche auf dem Gymnasium durchaus geschärft worden. Der Priester und Studienrat Helming, der uns in Biologie und Religion unterrichtete, hatte ein sehr enges Verhältnis zum Plattdeutschen und sammelte plattdeutsche Übersetzungen großer Balladen. So habe ich noch gut in Erinnerung, daß er uns mit der „Bürgschaft”, die in voller Länge ins Plattdeutsche übertragen wurde, viel Interesse abgewonnen hat. Er war es auch, der uns vertraut machte mit den plattdeutschen Geschichten des Hümmlings mit „Geerd sin Post-kontoor„ und einer Geschichte „Die Mergelkuhle”, bei der ich allerdings den Ver­fasser nicht mehr weiß.

Zurück zur Werft: Das Sprechen des Plattdeutschen wurde hier so weit fortgebil­det, daß es zur völlig natürlichen zweiten Sprache wurde und später auch häufig eingesetzt werden konnte.

Die dritte Begegnung mit dem Plattdeutschen fand dann statt im Richterberuf. Nach einer einjährigen Tätigkeit in Hannover als junger Staatsanwalt wurde ich an das Landgericht Aurich und später an die Amtsgerichte Weener und Leer versetzt und arbeitete dort insgesamt gut zwei Jahre. In dieser Zeit habe ich erlebt, wie le­bendig das Plattdeutsche insbesondere im ostfriesischen und Leeraner Bereich war. Es war ein großer Vorteil, wenn man wortkarge Zeugen darauf hinweisen konnte, daß sie ihre Aussage auch im Plattdeutschen wachen konnten. Es stellte sich dann heraus, daß viele sehr differenzierte Sachverhalte mit hoher Präzision im Plattdeutschen formuliert und geschildert werden konnten, und es entstand, wie es überhaupt im Miteinander in der plattdeutschen Sprache ist, eine gewisse glei­che Ebene. Wo man im Hochdeutschen eine Distanz zwischen dem Zeugen und dem Gericht verspürt hatte, ergab sich nunmehr im Plattdeutschen eine Gleich­stellung der sprechenden Personen, die nur mit der direkteren Art des Ausdrucks – jedenfalls teilweise – erklärt werden kann. Insofern war es für die „Wahrheitsfin­dung” sehr hilfreich, daß man mit den Parteien und Zeugen auf diese Gesprächs­ebene kommen konnte.

Die vierte intensive Begegnung geschah dann im weiteren Berufsleben. Nachdem ich in Papenburg Richter geworden war, habe ich nebenher mit der Politik etwas begonnen und mich zunächst um die kommunalen Belange gekümmert. Die Ar­beit in den kommunalen Vertretungsorganen, insbesondere im Kreistag, bei denen man dann wieder mit den Vertretern des ländlichen Bereichs stärker in Verbin­dung kam, war wesentlich dadurch bestimmt, daß wir politische Debatten tatsäch­lich in der plattdeutschen Sprache abwickeln konnten – und das bis in die neunzi­ger Jahre. Hier erwies sich das Plattdeutsche insoweit als sehr hilfreich, als dieser Effekt der Nähe, den ich bereits in meiner gerichtlichen Tätigkeit in Ostfriesland festgestellt hatte, wieder eintrat und zudem sich herausstellte, daß auch harte Aus­einandersetzungen, wenn sie in der plattdeutschen Sprache geführt wurden, nicht so sehr leicht in eine Situation der Verletztheit abgleiten konnten. Wir waren tatsächlich in der Lage, uns völlig unterschiedliche Standpunkte im Plattdeutschen sehr viel deutlicher gegenseitig mitzuteilen, um sie dann weiter zu einem Kom­promiß zu verarbeiten.

Wenn ich aus meinen Erfahrungen mit dem Plattdeutschen, das ich heute noch gerne auch in meinem Beruf als Anwalt pflege, ein Resümee ziehen sollte, so wür­de ich mir tatsächlich wünschen, daß diese – wie ich finde – wunderschöne Spra­che nicht verschwindet. Wenn ich jedoch die Entwicklung auch in meiner eigenen Familie sehe, bin ich, was das Überleben des Plattdeutschen angeht, nicht so sehr kurzfristig, aber schon mittelfristig in großer Sorge.