Dr. med. Heiner Wübbels

Auf Tour als „Hochtiedsnöger”

De schönste und deftigste Erinnerung vör mi und verlichte ok för Robben Bernd, de wi nu düt Book to ver­danken häbt, was use gemeinsame Tour äs Hochtiedsnöger; ik möss de Löh to mien ölsten Broors Hoch-tied inladen. Det was freuer so üblich, kiene Post oder so, ganz persönlik wört jeder Gast nögt, und dorbie gaft vull Plesair. Wie wassen weckenlang unnerwechtens, weil det Gedichtupseggen so upholde, tüskendör möss ja immer maol weer gegen dän Döss wat down werden! Det Gedicht sitt mi van Dage noch inn Kopp:

Gun Dag int Hus, hier is nen Mann,

de ju wat mojes verteilen kann.

Et is ja all wat länger lut,

det Wübbels Bernd häff ne Brut.

Waorn mol is he no Berge smättget,

man düsse Tied was nicht verquätget.

Dänn Wegg no Berge henn un her,

de mök emm erste vull Plesär.

Man lesten Winter wör hei`t satt,

bi all dat Unwehr up`n Patt.

Bi all det Glatties, Wind und Wehr,

do segg hei, ne det douk nich mehr.

In düssen Sommer will wie Hochtied fieren …

Also: Plattdeutsch ist meine Muttersprache! Ich kam damals mit roter, runzliger Haut als vierter Nachgeborener auf einem Bauernhof in Clusorth-Bramhar zur Welt. Mit meinem ersten Urschrei wurde ich also in eine plattdeutsche Region hin­eingeboren. Der Ort meiner „Muttersprache” hätte natürlich überall auf dem Glo­bus gewesen sein können. Woanders auf der Welt hätte ich wahrscheinlich „Ki-suaheli” oder „Ukrainisch” gelernt. Ich kam also, wohlbehütet durch die Familie, später durch Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft, automatisch mit der plattdeut­schen Sprache in Berührung. Auf dem Hof wurde die Großfamilie gelebt mit Groß­eltern, Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkel, Mägden, Knechten, Heuerleuten etc. Hier wurde nur platt gesprochen.

Bis zu meinem 5. Lebensjahr hatte ich „hochdeutsches” Vokabular bestenfalls durch Radiosendungen oder durch Hausgäste zu Gehör bekommen. Wissensdur­stig wurde ich also in die Volksschule Clusorth-Bramhar eingeschult, wir waren damals 18 Schulanfänger(innen). Es gab nur einen Klassenraum für die Unterklasse (Jahrgang 1-4) und einen für die Oberklasse (Jahrgang 5-8). Von Heute auf Mor­gen wurde ich nun mit der hochdeutschen Sprache konfrontiert, ich wäre am lieb­sten gleich wieder weggelaufen.

Unsere zwei(!) Lehrer, die zu der Zeit entweder die Unter- oder Oberklasse unter­richteten, bemühten sich sehr um uns, ich habe sie in guter Erinnerung! Für mich begann jetzt eine neue Lebensphase. Ich kannte alle meine Klas-senkameraden(innen) und die Lehrer bereits vor der Einschulung. Nicht etwa durch den Kindergarten, sondern durch den Kirchgang, der uns schon vor der Ein­schulung eingetrichtert wurde. Die Lehrer kannte ich auch durch die „Nebenbe­rufe” meines Vaters als Bürgermeister und Waidmann oder „Hasenvater”. Selbst­verständlich wurde zu Hause auch dann platt gesprochen, wenn die Lehrer zu Be­such kamen. In der Schule wurde jedoch zumindest in den Schulräumen nur noch Hochdeutsch vermittelt.

Hochdeutsch war für mich und natürlich auch für meine Mitschüler eine Fremd­sprache! Es traten viele kritische und – sagen wir – Konfliktsituationen auf, denn die Übersetzung war für mich (uns) wahrlich nicht immer einfach. Ein Beispiel möch­te ich erwähnen: Als meine Cousine Änne Backenzahnschmerzen hatte, meldete ich mich mutig und versuchte eine Übersetzung: Herr Lehrer, meine Cousine hat „Kausenkelln”. Der lachte natürlich und wußte, was ich meinte, nämlich „Kusen-kelin”. (Backenzahn wird auf Platt übersetzt mit Kuse, Schmerzen mit Kelln).

Im weiteren Verlauf wurde ich sicherer im Umgang mit der hochdeutschen Spra­che, aber Clbersetzungs- oder Satzgefügestörungen blieben zwangsläufig, da ja zu Hause und im Umfeld weiterhin platt gesprochen wurde.

Nach der Unterklasse und leider auch nach einem familiären Schicksal (Tod mei­ner Mutter) eröffnete sich für mich eine neue Lernphase als Internatsschüler oder Pater-Aspirant, später Gymnasiast. Damit begann der Umgang mit der lateini­schen, griechischen, englischen Sprache – ich darf erwähnen: Je mehr Vokabeln ich gelernt hatte, um so besser gelangen die Übersetzungen, und mit dem Hochdeut­schen war es ähnlich.

Plattdeutsch blieb aber in meiner Heimatgemeinde die Muttersprache. Wer ver­suchte, im Ort hochdeutsch zu sprechen, oder das Platt gar leugnete, war fast ein „Judas”.

Resümierend darf ich festhalten, je ortsälter, unabhängiger und flegeliger ich wur­de, um so sicherer wurde mein Orientierungssinn. Konfliktsituationen gab es zu­hauf. Die plattdeutsche Muttersprache hat mich also geprägt – gleichsam wie eine Löwenmuttersprache das Löwenbaby in der Serengeti prägt. Es ist die Sprache, die ich auch heute noch am sichersten beherrsche. Ich spreche selbstverständlich plattdeutsch mit meinen Geschwistern, Verwandten, Nachbarn usw., und auch in meiner neuen Heimat versteht man sich plattdeutsch bei verändertem Dialekt.