Wilhelm Horstmeyer

 

De Duwen in Köln

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Wer Platt spricht, spricht eine Sprache mehr! Dieser Grundsatz hat sich in meinem Leben – sowohl im pri­vaten als auch beruflichen – und bei der Übernahme von Ämtern im öffentlichen Bereich immer wieder be­stätigt und bewährt.

Aufgewachsen bin ich in Ostfriesland in einer Familie, in der nicht grundsätzlich plattdeutsch gesprochen wur­de. Mein Vater unterhielt sich in Platt, wenn seine Ge­schwister zu Besuch kamen, aber meine Mutter war nicht mit dieser Sprache aufgewachsen.

Selbst lernte ich Plattdeutsch nach meiner Einschulung in Emden kennen und vor allem sprechen. Es war fast selbstverständlich, daß in der Pause auf dem Schulhof unter den Schülern die neuesten Erlebnisse in dieser Sprache ausgetauscht wur­den. Besonders bemerkbar machte sich das bei dem Besuch des Gymnasiums, als mehr Klassenkameraden vom Lande zu uns kamen. Plattsprechen war für uns ein Gegengewicht gegenüber dem Lateinischen und Griechischen, was wir zu büffeln hatten. Freude bereitete es uns, wenn wir Lehrer „aus Deutschland” hatten, die mit dem Plattdeutschen nichts anzufangen wußten. Manche Spitznamen unserer Lehrer kamen auch aus dem Plattdeutschen, und ich habe nicht den Namen „Schaapkäs” vergessen.

Beim Eintritt in das praktische Berufsleben als Schiffbau Volontär bei den Nord­seewerken in Emden wäre ich ohne Plattdeutsch kaum weitergekommen. Der Ge­selle, dem ich zugeteilt wurde, fragte mich einfach „Woar heest du?” und „Wat maakt dien Vader” oder „Hest all’ mal ‘nen Hamer in’t Hand hat?”

Gleiche Erlebnisse hatte ich während meiner Wehrdienstzeit bei der Marine. Oft waren viele Norddeutsche an Bord, und selbstverständlich wurde auch hier platt­deutsch gesprochen. Erst recht bekam ich nach 1945 mit der plattdeutschen Spra­che zu tun, als ich meine Ausbildung in der Landwirtschaft begann. Schiffbau hat­te nach Kriegsende keine Zukunft, und eine Weiterführung des Studiums war für mich aussichtslos. In der ostfriesischen Marsch begann ich meine Lehre.

Neue Ausdrücke des Plattdeutschen lernte ich kennen – Ausdrücke, die nicht ins Hochdeutsche übersetzt werden können. An dem ostfriesischen Stelzpflug befin det sich, um den von Pferden gezogenen Pflug weit an der Grabenkante führenzu können, „dat ruum End”. Jeder Fachmann weiß, was das ist.   Aber ein  “raumes Ende” ist in der hochdeutschen Sprache nicht zu verstehen. Besonders in der Land­wirtschaft und im ländlichen Raum hat das Plattdeutsche meines Erachtens heute noch ein Zuhause.

Unter den norddeutschen Studenten war Plattdeutsch auch während meiner anschließenden landwirtschaftlichen und pädagogischen Studierzeit die Umgangs­sprache. Warum sollte man seine Heimatsprache verleugnen? Während des Pädagogikstudiums zum Landwirtschaftlichen Berufsschullehrer wurde uns die Bedeutung des Plattdeutschen im Unterricht auch immer wieder mit Beispielen klar gemacht. Ich erinnere mich an eine Vorlesung, in welcher der Professor uns erzählte, daß während seiner Lehrerzeit in einer Grundschule plötzlich ein Junge ohne Worte die Klasse verließ und wegrannte. Als er nach einiger Zeit ins Klas­senzimmer zurückkehrte und gefragt wurde, wo er denn gewesen sei, habe er ge­antwortet: „Ick haar vergeten, mien Kaninen to fooren.” „Was hätte ich”, – so der Professor – „in dem Jungen an Pflichtbewußtsein zerstört, wenn ich ihn nicht ver­standen und gemaßregelt hätte.”

Ähnliche Beispiele kann ich aus meiner eigenen Unterrichtstätigkeit erzählen. Auf der Fahrt mit einer Berufschulklasse an den Rhein machten wir in Köln Halt. Die Höhe und bauliche Ausstrahlungskraft des Domes und auch die Größe des Haupt­bahnhofes beeindruckten die Fahrtteilnehmer kaum. Plattdeutsche Worte wie „Mußt eben kieken, doar sind Duwen” und die Frage „Düren wie hier ok platt prooten” waren viel wichtiger. Eine Schülerin erzählte nach Verlassen des Domes von anderen Besuchern: „De hebbt uns fragt, of wie Hollanders wären”.

Im Jahre 1956 kam ich in den Landkreis Grafschaft Bentheim, um hier die Leitung der Landwirtschaftlichen Berufsbildenden Schulen zu übernehmen. Bei dieser Aufgabe, den vielen Elternbesuchen und Verhandlungen mit den Vertretern von landwirtschaftlichen Organisationen, kamen mir ebenfalls meine plattdeutschen Sprachkenntnisse zugute. Im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern war Plattdeutsch eine Brücke zum gegenseitigen Verständnis. Neben der Schule her begannen wir gemeinsam mit der Landjugendarbeit, und bei dieser Arbeit stand das plattdeutsche Laienspiel mit im Mittelpunkt. Seit dem Jahre 1960 spielt die Landjugend Nordhorn – wie auch andere Landjugendgruppen im Kreisgebiet – in je­dem Winterhalbjahr ein plattdeutsches Stück und zählt bei etwa acht Aufführun­gen tausende Besucher.

Ist Plattdeutsch überholt und eine zurückgehende Sprache? Die vorliegenden Zah­len beweisen meines Erachtens das Gegenteil. Leider sind zu wenige plattdeutsche Stücke im Grafschafter Platt geschrieben. Und werden sie aus anderen Regionen übernommen, besteht die Gefahr, daß nichttypische Grafschafter Ausdrücke mit einfließen.

Um das Plattdeutsche zu fördern, habe ich seit 30 Jahren als Vorstandsmitglied des Heimatvereins in Verbindung mit der Kreissparkasse und dem Schulaufsichtsamt die Organisation von plattdeutschen Lesewett­bewerben übernommen. Wider Erwarten zeigt die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler bei jedem Wettbewerb eine steigende Tendenz, so daß wir seit eini­gen Jahren vor den Kreisentscheiden in den einzelnen interessierten Schulen Vor-entscheide einführen mußten. Beim letzten Wettbewerb haben in den Vorent-scheiden von 36 Schulen etwa 530 Schülerinnen und Schüler teilgenommen, von denen sich 140 für den Kreisentscheid qualifizieren konnten.

Änderungen in den Bevölkerungsstrukturen durch Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen und auch Änderungen im Schulsystem durch Einführung von zentralen Schulen, Kindergärten und Spielkreisen haben in den letzten Jahrzehn­ten für die Beibehaltung des Plattdeutschen negative Spuren hinterlassen. Sollen und müssen wir aber auf das, was hier in unserer Region eigenständig und ge­wachsen ist, verzichten? Für heimatverbundene Organisationen, Elternhäuser und schulische Einrichtungen besteht zur Erhaltung des Plattdeutschen nach meiner Auffassung eine besondere Verpflichtung! Plattdeutsch darf in der Schule zum Bei­spiel nicht als „Fach” unterrichtet werden, sondern muß Unterrichtsprinzip sein. Das setzt voraus, daß an den Schulen Lehrkräfte als Ansprechpartner (Obleute) zur Verfügung stehen, die sich verstärkt für die Erhaltung der regionalen Sprache ein­setzen.

Viele Jahre hindurch war ich im kommunalpolitischen Bereich tätig und hatte auch führende Ämter übernommen. Wenn auch im offiziellen Bereich die hochdeut­sche Sprache Amtssprache war, so war im Gespräch mit den Menschen vor Ort vielfach das Plattdeutsche vorherrschend. Gerne denke ich an Besuche bei älteren Mitbürgern zurück, wenn sie Geburtstage hatten oder Ehejubiläen feiern konnten. Die Berichte von früher wurden meistens im Grafschafter Platt vorgetragen, und ich bedaure im nachhinein, daß ich kein Tonbandgerät bei mir hatte, um die Er­lebnisse aus früheren Zeiten aufnehmen zu können. Berichte aus den landwirt­schaftlichen Betrieben und aus den Anfängen der Textilindustrie sowie dem Wach­sen der Stadt Nordhorn, der Anbindung an den Verkehr, der Entwicklung von Handel und Wandel in der Stadt und im Kreisgebiet, dem Fertigwerden mit den Grenzproblemen – einschließlich des Schmuggels – auf Grafschafter Platt vorgetra­gen, sind leider unwiederbringliche Kostbarkeiten, und ich kann nur darauf hin­weisen, in dieser Hinsicht festzuhalten, was heute noch festzuhalten ist.

Wie sehr gerade die plattdeutsche Sprache vermag, Menschen anzusprechen und sich mit ihren Problemen dem Gesprächspartner anzuvertrauen, habe ich als Bür­germeister von Nordhorn in meinen wöchentlichen Sprechstunden erfahren kön­nen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Sozialhilfeempfängerin, die eine Jahresabrechnung von den Versorgungsbetrieben nicht begleichen konnte, weil ihr der geringe Betrag fehlte. Wie muß die Frau sich selbst überwunden haben, um überhaupt ins Rathaus zu kommen und mir das vorzutragen. Sie meinte, ihr Pro­blem hochdeutsch mitteilen zu müssen, und erst als ich sie ermuntert hatte, mir das Anliegen plattdeutsch zu erzählen, war die Scheu überwunden. Daß ihr zu helfen war, war in diesem Falle zweitrangig, aber in dem dann weiterführenden Ge­spräch stellte sich heraus, daß sie auch noch andere Sorgen in der Familie und in der persönlichen Lebensführung hatte, bei denen ich ihr raten und einige Vor­schläge unterbreiten konnte. Diese Unterhaltung hat mir in besonderer Weise ge­zeigt, wie wichtig es ist, plattdeutsch zu verstehen und zu sprechen, und daß es hilft, Menschen aufgeschlossener und freier werden zu lassen.

In der Zeit meiner öffentlichen Ämter habe ich einige Male auswärtige Gäste in plattdeutscher Sprache begrüßt. Das löste in manchen Fällen Erstaunen aus, den sogenannten „Aha-Effekt”, auf den keiner gefaßt war. Während einer Tagung des plattdeutschen „Schrieverkrings” wurde ich von den Gästen gebeten, bei einer Rundfahrt die Stadt Nordhorn in Platt vorzustellen. Diese Bitte habe ich als per­sönliche Herausforderung verstanden und sie befolgt. Es geht!

Grafschafter Platt und das Platt aus der benachbarten Twente in den Niederlanden sind sehr miteinander verwandt. Als die Räte der Stadt Nordhorn und der Ge­meinde Denekamp NL im Jahre 1993 nach Öffnung der Grenze zum ersten Male zusammen tagten, um gemeinsam über Fragen der Grenzöffnung und des ge­meinsamen Europas zu beraten, hielt ein Wethouder (Dezernent) der Nachbarge­meinde sein Referat auf Twenter Platt. Verkehrsfragen, Straßenführungen, Vor-und Nachteile des Wegfalls der Grenzkontrollen usw. wurden auch in dieser Re­gionalsprache von allen verstanden.

Erlebt habe ich bei einem Empfang von Grafschaftern, die nach dem Kriege in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren und zu einem Besuch in ihrer alten Hei­mat weilten, wie sie heute – nach über 45 Jahren – noch untereinander plattdeutsch sprechen. Nur bei der nachwachsenden Generation nimmt das Englische als Um­gangssprache zu. Bei dem offiziellen Empfang der Gruppe durch die Stadt Nord­horn wurde vom Plattdeutschen ins Englische und umgekehrt gedolmetscht. Wo hat es so etwas bei Empfängen auf diplomatischer Bühne schon gegeben!

Und privat? Meine Frau und ich sprechen nur plattdeutsch miteinander und teilen darin auch Freude und Sorgen. Selbst wenn ich aus naher oder weiter Entfernung zu Hause anrufe, schalte ich unwillkürlich auf das Plattdeutsche um. Die Mehrzahl unserer Kinder und Enkelkinder sind leider nicht mehr in der Grafschaft Bentheim, da sie beruflich anderswo ihre Arbeit gefunden haben. Sie sprechen nicht platt­deutsch, verstehen es aber sehr gut. Die Enkel haben damit größere Schwierigkei­ten. Das darf uns hier in unserer engeren Heimat aber nicht dazu verleiten, die bei uns als bodenständig geltende Sprache zu vernachlässigen. Wir müssen sie als un­wiederbringliches und unersetzliches Kulturgut weiterhin beibehalten und för­dern.