Jan Mülstegen

Platt hilft heilen

Hochdeutsch ist die Amts- und Schriftsprache Deutsch­lands. Platt- oder Niederdeutsch kann und will neben der Hochsprache nicht zweite Amtssprache sein. Sie ist altes Kulturgut von hohem Wert. Für mich ist Platt­deutsch die Muttersprache, es ist die Sprache, in der ich lebe und denke. Hochdeutsch dagegen ist für mich nur ein Mittel zur Verständigung.

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In der kleinen Landgemeinde Haftenkamp in der Graf­schaft Bentheim wuchs ich auf. In der Familie und mit allen Menschen, mit denen wir täglich zu tun hatten, wurde plattdeutsch gesprochen. Die bäuerliche Bevölkerung beherrschte die Sprache in jener Zeit noch perfekt.

Vier Jahre besuchte ich in Haftenkamp die einklassige Volksschule. Es war selbst­verständlich, daß unter uns Kindern die Kommunikation hier in der für uns so ver­trauten Mundart stattfand. In den Pausen sprach auch der Lehrer ganz unge­zwungen mit uns platt. Er hielt sogar seine ersten Unterrichtsstunden mit den Schulanfängern in dieser Sprache.

Diese Situation änderte sich keineswegs, als nach dem Kriege die vielen Flücht­lingskinder zu uns kamen. Auch mit ihnen sprachen wir in unserer Mutterspra­che. Für die Schüler aus Ostpreußen oder Pommern mögen unsere Worte unge­wohnt geklungen haben, aber so ganz fremd war den meisten das Niederdeutsche nicht. Die Mundart ihrer Heimat war auch plattdeutsch gewesen. Diese behielten sie im Umgang mit ihren Eltern bei, aber mit uns Einheimischen sprachen sie recht bald unseren hiesigen Dialekt. Heute sprechen diese ehemaligen Flüchtlingskinder neben dem Hochdeutschen ein akzentfreies Grafschafter Platt. Die Sprachei­gentümlichkeit ihrer ostdeutschen Heimat ist jedoch zumeist verlorengegangen.

In meinem über 40jährigen Berufsleben als Krankenpfleger hatte ich ständig mit Menschen aus allen Schichten und den verschiedenen Altersgruppen zu tun. Im Umgang mit ihnen gewann ich in all den Jahren enorme Erkenntnisse im Sprach­verhalten der Bevölkerung. Als Plattsprecher richtete ich natürlich ein besonderes Augenmerk darauf, wie die Menschen mit dem Plattdeutschen umgingen.

In der Ausbildungszeit Ende der 50er Jahre stand bei der Schul- und Kranken­hausleitung das Plattdeutsche nicht besonders hoch im Ansehen. Es wurde uns Krankenpflegeschülern nahegelegt, der Berufsethik wegen, sich das Plattdeutsche als „unfein” abzugewöhnen. Wir nahmen dies zur Kenntnis, taten es aber nicht. Es war auch überhaupt nicht möglich, denn es gab immerhin mehr Plattsprecher als hochdeutsch sprechende Menschen. Auch wir Schüler unterhielten uns in Platt. Hochdeutsch geführte Gespräche unter „Plattproatern” wären damals als Albern­heit empfunden worden.

In den 60er Jahren wurde es „schick”, hochdeutsch zu sprechen. Ohne Druck von oben wandelte sich das Sprachverhalten der Kolleginnen und Kollegen. Besonders die jüngeren Mitarbeiter waren anfällig für das Hochdeutsche. Diese Wandlung war in der gesamten Bevölkerung zu beobachten. Es war die Zeit, in der merklich weniger niederdeutsch gesprochen wurde und die Eltern mit ihren Kindern nur noch hochdeutsch sprachen.

Plattdeutsch sprechende Menschen begannen nun, eine Spräche zu sprechen, die sie nicht richtig beherrschten, und brachten dabei eigenartige Wort- und Satzbil­dungen hervor: „Ich habe meine Tabletten verloren gekriegt.” – „Mit tut das ganze Leben (gemeint: Lichaam = Körper) weh.” – „Heute werden sie von mir entbun­den.” (Ich werde heute entlassen.) – „Du hast dich gut gehabt.” (Du hast dich gut erholt.) „Die Teine (Zehe) drücken so.”

Die 70er Jahre waren schlimm für das Niederdeutsche, es unterlag dem Hoch­deutschen gänzlich. Nur die wenigsten Menschen waren noch bereit, platt zu sprechen. Ja, Plattsprecher wurden sogar ausgelacht, gehänselt und als dumm und nicht bildungsfähig abgetan.

Dann kamen endlich die 80er Jahre mit der Besinnung auf verlorene Werte. Es bil­deten sich Plattproater- und Schriewerkringe, Platt wurde für viele Menschen Feierabendsprache, und am Arbeitsplatz hieß es oft: „Oh, du sprichst platt, das möchte ich auch können!” Diese erfreuliche Entwicklung blieb bis auf den heuti­gen Tag erhalten.

Ich konnte allen Anfechtungen, denen meine Muttersprache ausgesetzt war, wi­derstehen. Ganz bewußt begann ich diese alte Sprache zu pflegen und machte sie sogar zu meinem Hobby. Jahrelang habe ich selten gewordene Wörter, Redewen­dungen und Sprichwörter gesammelt. Dabei kam mir zugute, daß ich täglich mit vielen Menschen zu tun hatte, die mich, oft ohne daß sie es wahrnahmen, dabei unterstützten. Besonders die Älteren unter ihnen, die vielfach noch ein unver­fälschtes Platt sprachen, boten sich als eine unerschöpfliche Quelle an. Außerdem interessierten mich Ursprung, Entwicklung und die verwandten Sprachen des Nie­derdeutschen. Um meinen Wissensdurst zu stillen, habe ich im Selbststudium sehr interessante Erkenntnisse gewonnen.

Die Pflege des kranken Menschen ist ein ernstes und wichtiges Kapitel in der So­zialarbeit. Sie erfordert seitens der Krankenschwester und des -pflegers ein hohes Maß an menschlicher Wärme und Einfühlungsvermögen. Hier zeigt sich immer wieder, wie wichtig und hilfreich die plattdeutsche Sprache sein kann. Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, daß Platt zur Heilung bei platt sprechenden Pa­tienten beiträgt. Platt beruhigt, nimmt Ängste, birgt Vertrauen in sich, macht ge­sprächsbereit und gibt oft wieder Lebensmut.

Einen Vorgang möchte ich als Beispiel anführen. Herr W., ein schon ziemlich be­tagter Patient, kam zu mir auf die Intensivstation. Er hatte schon seit Tagen auf ei­ner Normalstation unseres Krankenhauses gelegen. Eingeliefert worden war er mit Rhythmusstörungen. In der fremden Krankenhausatmosphäre war ein Durch­gangssyndrom hinzugekommen. Dadurch hatte sich der Zustand des Patienten sehr verschlechtert.

Ich nahm Herrn W. in Empfang. An Hand von Vor- und Familienname, Alter und Herkunft stufte ich ihn sofort als „Plattproater” ein. Zum Glück verfügte ich über etwas Zeit und konnte mich eingehend mit meinem neuen Patienten beschäftigen. Ich setzte mich zu ihm ans Bett und führte ein langes Gespräch mit ihm – in Platt natürlich. Noch im Laufe der Unterhaltung klarte Herr W. auf und begann zu er­zählen. Ich gewann recht bald den Eindruck, daß seine Ausführungen auf sicherer Grundlage ruhten. Sein Herzschlag normalisierte sich merklich, so daß ich zur Abendvisite dem Arzt einen deutlich gebesserten Patienten vorstellen konnte. Am nächsten Tag war eine Intensivüberwachung nicht mehr nötig, Herr W. konnte auf die Normalstation zurückverlegt werden. Ohne zusätzliche Medikation war dieser Vorgang abgelaufen.

Auch im Umgang mit Angehörigen und Besuchern ist Plattdeutsch oft sehr sinn­voll. Man kann in dieser Sprache mit derselben Selbstverständlichkeit wie im Hochdeutschen trösten, Auskunft, Zuspruch und Hoffnung geben.

Es ist aber nicht so, daß ich alleine in unserem Krankenhaus platt spreche. Ich schätze, daß etwa die Hälfte des Personals plattdeutsch spricht. Verstehen können diese Sprache wohl an die 80 oder 90 Prozent, ohne Unterschied ob Pflegeperso­nal, ärztliches, medizinisch-technisches oder Verwaltungspersonal. Ein Unter­schied zwischen älteren oder jüngeren Mitarbeitern ist nicht zu beobachten. Natürlich kommen diese Menschen nicht alle aus dem hiesigen Raum. Sie stam­men aber überwiegend aus dem niederdeutschen Sprachgebiet.

Auch wenn die hochdeutsche Sprache das Platt unaufhaltsam zurückdrängt, so ist doch zu beobachten, daß das Interesse an dieser Sprache zur Zeit wieder zunimmt. Allerdings hat es eine Verlagerung gegeben. Menschen mit höherer Schulbildung legen mehr Wert auf die Erhaltung der Sprache als weniger gebildete.

Weiter ist zu beobachten, daß jüngere Plattproater selten ein Gespräch in Platt be­ginnen. Sie wechseln erst allmählich, nachdem sie merken, daß ihr Gesprächs­partner ebenfalls des Plattdeutschen kundig ist, in die niederdeutsche Sprache über. Bekannt ist, daß Frauen weniger Mut zum Plattdeutschen haben als Männer. In Plattdeutsch gehen die Menschen ungezwungener aufeinander zu. Leicht geschieht es, daß sie kumpelhaft werden und den völlig fremden Gesprächspartner unvermittelt duzen.

Leider sehen viele Zeitgenossen in der ältesten Sprache Deutschlands kein pflege­bedürftiges Kulturgut, sondern nur ein Kauderwelsch für derb-deftige Witze. Im Gegensatz zum Hochdeutschen ist Plattdeutsch mittlerweile fast nur noch die Sprache der privaten Situation. Dennoch wäre es auch heute noch möglich, in Plattdeutsch dienstliche Gespräche zu führen, ohne ein hochdeutsches Wort zu Hilfe zu nehmen – nicht nur in Krankenhäusern. Natürlich wären gelegentliche Umschreibungen erforderlich, dies ist jedoch in allen Sprachen so. Und die vielen Fremdwörter, die sich ins Hochdeutsche eingeschlichen haben, müßten wie dort angewandt werden. Dazu wird es nie kommen, denn kaum jemand kennt noch den umfangreichen Wortschatz und die Grammatik des Niederdeutschen.

Ständig beobachte ich, wie das Plattdeutsche unaufhörlich verhochdeutscht wird. Immer mehr Ausdrücke verschwinden. Selten höre ich noch: „De Dokter kunn niks finnen.” Man sagt heute: „De Dokter kunn niks fastestellen.” Oder: „De Fie-bermetter is dalefallen.” Heute heißt es: „Dat Thermometer ist runnerfallen.” Die Wörter „finnen”, „Fiellermetter” und „dalefallen” werden gegen „fastestellen”, ‚Thermometer” und „runnerfallen” eingetauscht.

Es wird in Zukunft so weitergehen, daß das Platt immer weiter grammatikalisch und im Wortschatz verhochdeutscht wird. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhal­ten, sie wird noch beschleunigt. Sie führt dahin, daß das Niederdeutsche völlig in die Hochsprache aufgehen wird. Dieser Zeitpunkt wird in spätestens 50 Jahren er­reicht sein.