Heinrich Hanneken

Tägliche Umgangssprache

Das Plattdeutsche ist für mich im wahrsten Sinne des Wortes die „Muttersprache”. Mein Elternhaus steht in der Hümmlinggemeinde Esterwegen. Mein Vater, der in seinem Heimatdorf Esterwegen eine Manufaktur-und Kolonialwarenhandlung eröffnete, sprach selbst­verständlich plattdeutsch, ebenso meine Mutter, eine gebürtige Aschendorferin. Der hochdeutschen Sprache bedienten sich nur die Geistlichen, Lehrer und Lehre­rinnen. Ich pflege bis heute noch Freundschaften, die in den Kindertagen erwuchsen. Bei Besuchen und Treffen wird plattdeutsch gesprochen – auch wenn diese Be­gegnungen weit von Esterwegen stattfinden.

Unsere Eltern waren allerdings darauf bedacht, daß wir, wenn wir uns der hochdeutschen Sprache bedien­ten, diese korrekt sprachen. Es kam zu einem Test, als ich als Zwölfjähriger das Bischöfliche Konvikt in Meppen bezog und dort das staatliche Gymnasium be­suchte. Ich freute mich zwar über jeden Mitschüler, mit dem ich mich in platt­deutscher Sprache unterhalten konnte, doch ich erlebte keineswegs dadurch Nachteile, daß bislang das Plattdeutsche meine Umgangssprache gewesen war. Meine Schwächen waren die mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächer. In den Fächern Deutsch, Latein, Griechisch und Englisch erhielt ich durch­weg gute Noten.

Wenn ich in meiner Tätigkeit als Priester erlebe, daß sich Menschen plattdeutsch unterhalten – und das geschieht oft -, nehme ich jedesmal die Gelegenheit wahr, meine Kenntnis der plattdeutschen Sprache zu demonstrieren. Das schafft sofort Kontakte. Zwar habe ich als Pfarrer einer Emslandgemeinde in der Regel mit den Menschen hochdeutsch gesprochen. Ich hatte immer den Eindruck, daß man es auch vom Pastor erwartete. Doch gerade ältere Menschen waren dankbar, wenn der Pastor sich mit ihnen in plattdeutscher Sprache unterhielt.

Das Plattdeutsche ist für mich heute tägliche Umgangssprache. Meine Schwester führt unseren Haushalt. Es würde auf uns als befremdend wirken, wenn wir uns nicht in unserer Muttersprache unterhielten. Selbstverständlich läuft bei Geschwi­stertreffen die Konversation auf Plattdeutsch. Es stimmt mich etwas traurig, daß die nachfolgende Generation in meiner Verwandtschaft diese Sprache nicht mehr ge­lernt hat.

Mir sind allerdings auch die Grenzen dieser Sprache bewußt geworden. Ich habe fast 20 Jahre für den NDR plattdeutsche Morgenandachten gehalten und vom NDR die Aufgabe übertragen bekommen, die Ansprachen der katholischen Auto­ren zu korrigieren. Mir hat es große Mühen bereitet, spirituelle und theologische Inhalte in plattdeutscher Sprache auszudrücken. Mir wurde bald klar, daß ich die Sätze nicht zunächst hochdeutsch vordenken und vorformulieren durfte, um sie dann ins Plattdeutsche zu übersetzen. Ich mußte theologische Begriffe mit Sätzen umschreiben. Mir wurde deutlich, daß Hauptsätze mehr der plattdeutschen Denk­weise entsprechen als Nebensätze, vor allem, wenn diese in größerer Zahl in ei­nem Satzgefüge auftauchen.

Ich wurde in meiner Zeit als Landjugendseelsorger des Bistums öfter zu plattdeut­schen Gottesdiensten eingeladen. Ich habe aufgrund der Erfahrung mit dieser Art der Gottesdienste den Entschluß gefaßt, solche Einladungen nicht mehr anzuneh­men. Es war ausgesprochen mühsam, liturgische Gedanken, Formulierungen und Sätze plattdeutsch auszudrücken. Schließlich kam es dann doch immer wieder zum „germanisierten Platt”. Ich hatte den Eindruck, daß ich damit weder dem Gut der plattdeutschen Sprache diente noch der Erbauung der Gläubigen.

Als sich in Hannover der neugewählte Landtag konstituierte, sprach der Präsident, dem die Eröffnungszeremonie oblag, einleitend einige Gedanken in plattdeutscher Sprache. Er wollte sicher damit unserer Muttersprache einen guten Dienst erwei­sen. Doch als ich diese Eröffnung im Fernsehen verfolgte, wurde mir noch einmal deutlich, daß sich beim besten Willen gewisse Sachbereiche nicht plattdeutsch for­mulieren lassen. Der Präsident mußte – ob er wollte oder nicht – sich mehrerer hochdeutscher Begriffe bedienen. Um den Eigenwert der plattdeutschen Sprache zu erhalten, würde ich in einer solchen Situation lieber nur hochdeutsch sprechen.

Nicht ganz ohne Probleme sind für mich die Aufführungen plattdeutscher Thea­terstücke. Sie erfreuen sich zwar einer hohen Akzeptanz. Sie haben durchaus ei­nen hohen Unterhaltungswert. Sie sind sicher auch ein Betätigungsfeld für schau­spielerische Naturtalente. Doch wird in solchen Stücken das eigentliche plattdeut­sche Lebensgefühl wiedergegeben? Es werden nie Stücke aufgeführt, die zum Nachdenken anregen. Immer sind es Lachnummern. Wer den Alltag der ländli­chen Familie erlebt hat, weiß um die Sorgen, um Krisen und um schmerzliche Le­bensentscheidungen. Ich möchte mit diesen kritischen Anmerkungen nicht die vielen Frauen, Männer und Jugendlichen verletzen, die sich mit großem Engage­ment um das Laienspiel bemühen. Doch ist es mir sicher erlaubt, einige Fragen zu stellen, die sonst kaum gestellt werden.

Ich wünschte, daß die plattdeutsche Sprache als lebendige Sprache erhalten bleibt. Die Schule kann ihren Beitrag dazu leisten. Doch dieser Beitrag kann nur subsidiär sein. Das Eigentliche muß in den Familien geschehen. Ich habe großes Verständ­nis dafür, daß Eltern ihre Kinder zunächst in die hochdeutsche Sprache einführen. Doch muß das ausschließen, daß die Kinder von einem gewissen Alter an auch plattdeutsch sprechen, ja, diese Sprache zu ihrer Umgangssprache machen?

In der plattdeutschen Sprache wird ein bestimmtes Lebensgefühl zum Ausdruck gebracht: Sie birgt den Geruch des Dorfes in sich. Damit ist Nähe und Vertrautheit ausgedrückt. Es verbindet sich damit die Vorstellung von Feldern, Gärten, Wald und unbetonierten Wegen. Immer mehr Menschen schätzen das Leben dieser Art. Es lohnt sich, eine Sprache zu erhalten, die in besonderer Weise dieses Leben in Worte faßt.