Bernd Gels

Wichtiger als Latein

Gebete lernten wir in Hochdeutsch. Sonst sprachen wir nur plattdeutsch in unserem Dorf Bramsche. Merkwür­digerweise gab es keine plattdeutschen Gebete. Dann kam im Gottesdienst das Latein dazu. Komisch, wir be­teten doch sonst nur hochdeutsch. Erst im Religions­unterricht lernten wir dann: Gott ist allwissend. Also konnte er doch auch plattdeutsche Gebete verstehen. Aber auch der Pastor sprach neben dem Latein in der Kirche nur hochdeutsch, ebenso der Lehrer und die Lehrerin, der Polizist und die Flüchtlingsfamilien. Aller­dings verstanden sie alle die plattdeutsche Sprache, be­nutzten sie aber nicht, obwohl Pastor und die Lehrpersonen sie auch sprechen konnten. Einige Flüchtlinge versuchten diese Sprache zu erlernen, dabei kam es oft zu lustigen Formulierungen. Mein Vater stammte aus Brögbern und sprach ein et­was anderes Platt als wir. Die Kirche heißt bei uns in Bramsche „Keike” und in Brögbern „Kerke”. So sind die Wörter von Ort zu Ort verschieden, deshalb kann man an der Sprache die Herkunft der Leute erkennen. „Deine Sprache verrät dich.” (Mt 26,73)

Als ich dann eingeschult wurde, mußte ich, wie alle anderen Kinder, die hoch­deutsche Sprache erlernen. Da ging zuerst vieles durcheinander, und unsere Leh­rerin wird sich öfters köstlich amüsiert haben. Lesen und schreiben mußten wir in Hochdeutsch, und wir erlernten die Sprache schnell, denn so fremd war das Hoch­deutsch nun doch nicht. Einiges war im Plattdeutschen einfacher. Zum Beispiel „mir” und „mich” kann im Plattdeutschen nicht verwechselt werden, da gibt es nur „mi”. Manchmal hatten wir als Kinder den Vogel, nur noch hochdeutsch zu spre­chen, weil das als feiner galt, aber geschimpft wurde doch auf Platt. Ältere Leute brachten uns dann wieder auf den Teppich: „Proat man röstig platt, dat is ok ne fie-ne Sproke”, Ich hatte oft den Verdacht, daß ältere Leute das Hochdeutsche wieder verlernt hatten, denn sie sprachen nicht gerne hochdeutsch. Wer hochdeutsch sprach, galt als eingebildet: „De will wall wat betteres wennen, he weet nich mehr, wo he herkoump”.

Später in der Berufsschule in Lingen trafen wir mit den Jugendlichen aus der Stadt zusammen, und die sprachen natürlich kein Platt, aber wenn wir Jugendliche aus Bramsche uns trafen, sprachen wir untereinander platt. Und es ist bis heute für mich unmöglich, mit den Bramschern, mit denen ich aufgewachsen bin, hoch­deutsch zu sprechen, das geht einfach nicht. Später im Studium sprachen nur we­nige platt, aber auch wir unterhielten uns hochdeutsch. Einmal haben wir ver­sucht, einen plattdeutschen Abend zu gestalten, aber das ging gründlich daneben.

Schon nach wenigen Sätzen waren wir wieder beim Hochdeutschen. Ich glaube, wir kannten uns nicht gut genug und waren es einfach nicht gewohnt, uns auf Plattdeutsch zu unterhalten, und „auf Befehl” klappte es nicht.

In meinem jetzigen Beruf als Priester ist die plattdeutsche Sprache von ungeheurer Wichtigkeit. „Kaplon, könn Ih ok platt?” Wenn ich das bejahe, dann ist oft das Eis gebrochen. Besonders ältere Leute tauen auf, wenn sie mit einem Geistlichen platt sprechen können. Ein älterer Priesterfreund aus dem Emsland sagte mir, daß die plattdeutsche Sprache wichtiger sei als das Latein. Für das Emsland gilt das mit Si­cherheit. Ich habe dadurch, daß ich platt verstehe und auch spreche, sehr viel er­fahren. Ältere Leute scheuen sich sehr oft, wenn sie auf Hochdeutsch erzählen sol­len, aber auf Platt geben sie ihr Wissen gern preis. Sie erzählen von früheren Zei­ten, von alten Sitten und Bräuchen, von Begebenheiten und Erfahrungen, die nur sie erzählen können. Sie stellen dann auch Glaubensfragen, oft auch Fragen, die sie quälen. „Nun mok ju doch es wat froagen.” Auf Platt trauen sie sich und wer­den vertrauter.

Jetzt in Bremen spreche ich wieder nur hochdeutsch. Manchmal höre ich auf dem Bremer Marktplatz Leute platt sprechen, das ist dann oft wie Musik in meinen Oh­ren. Unsere Pfarrsekretärin, die weder plattdeutsch versteht noch spricht, staunt immer, wenn jemand auf Plattdeutsch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat. „Da ist eine Geheimsprache, ich weiß nicht, was der will.” Ich weiß dann aber, das ist jemand von zu Hause.

Ich erzählte schon zu Beginn, daß die Gebete immer nur in Hochdeutsch waren, und es ist merkwürdig, daß es mir schwerfällt, eine Messe auf Plattdeutsch zu ze lebrieren. Ein Brautpaar hatte sich das einmal gewünscht, und ein Onkel des Paa­res hatte die Messe ins Plattdeutsche übersetzt. Die Feier war sehr schön, und die Leute waren begeistert. Aber für mich war das doch etwas Fremdes, wohl auch, weil ungewohnt. Mit dem lieben Gott hatte ich eben immer nur hochdeutsch ge­sprochen.

Ich weiß, daß die plattdeutsche Sprache nicht eine beherrschende Sprache ist und sein wird, aber ich denke, daß es doch gut wäre, sie zu erhalten und zu pflegen. Sicher ist es heute wichtiger, daß Kinder Englisch, Französisch oder sonst eine der Weltsprachen lernen. In unserer Zeit, da die Welt immer mehr zusammenwächst, ist es sicher wichtig und sogar notwendig, sich mit Menschen anderer Länder und Kulturen unterhalten zu können. Dabei ist es nicht schädlich, auch die alte Spra­che der Heimat zu kennen, um auch mit den Menschen. hier, besonders auch den älteren, Gespräche führen zu können. Denn obwohl beide Sprachen vieles ge­meinsam haben, gibt es doch auch Unterschiede.

So kann ein plattdeutscher Witz nicht einfach ins Hochdeutsche übersetzt werden, er verliert dann oft seine Pointe. Auch sonst kann vieles ja nur sinngemäß über­setzt ‘werden, und dabei geht der tiefere Sinn vielfach verloren. Ich spreche gern

platt und fühle mich in dieser Sprache zu Hause. Deshalb lese ich mit Vorliebe Bücher und Geschichten in plattdeutscher Sprache, zum Beispiel von Maria Mönch-Tegeder. Die Wörter und Ausdrücke, die sie verwendet, haben noch etwas Uriges und Urwüchsiges an sich, sie sind noch nicht „verhochdeutscht”, wie das heute oft geschieht.

Ich freue mich besonders, daß heute viele Lehrer sich dieser Sprache annehmen, sie selber pflegen und versuchen, sie zu erhalten.