Sprache des Gesprächs
Ja, auch ich spreche plattdeutsch.
Es ist die Sprache, die an meiner Wiege gesprochen wurde und mit der ich aufgewachsen und groß geworden bin. Auch heute noch, wo ich im Dienst überwiegend die hochdeutsche Sprache spreche, denke ich plattdeutsch. Das äußert sich dadurch, daß mir manchmal unbeabsichtigt plattdeutsche Wörter im Gespräch herausrutschen. Für mich ein Zeichen dafür, wie tief sich die Muttersprache bei mir festgesetzt hat – „Mutters Sprache” eben.
Welche Bedeutung hat die plattdeutsche Sprache für mich heute? Wenn ich mich mit jemandem auf Platt unterhalte, dann ist dort sofort eine größere Nähe zu spüren. Es ist für mich die Sprache des Gesprächs. Eine Kommunikationsebene und Kommunikationsmöglichkeit nach dem Gleichheitsprinzip. Für mich werden durch „Platt” Hierarchien abgebaut.
Auch glaube ich, daß die plattdeutsche Sprache besonders geeignet ist, kulturelle und soziale Nähe zu dokumentieren. Wie sonst sind die vielen mundartlichen Variationen zu erklären? Oftmals sind diese Nuancen ja schon zwischen einzelnen Bauernschaften zu erkennen. Fachleute sind in der Lage, den Herkunftsort – nicht nur den Kreis oder die Region – an der mundartlichen Ausgestaltung der plattdeutschen Sprache des Gesprächspartners zu erkennen. Eine solche kleinräumige Differenziertheit ist bei der hochdeutschen Sprache unbekannt – für mich ein höchst bedeutsames Zeichen von Identität, in einer sich immer globaler gestaltenden Umwelt ein nicht hoch genug einzuschätzender Umstand. Ich bin davon überzeugt, daß in einem zusammenwachsenden Europa, in dem die nationalen Grenzen immer durchlässiger und damit weniger sichtbar sein werden, solche kulturellen und sozialen Kristallisationsmerkmale eine immer größere Bedeutung erlangen. Sie werden in Zukunft vielleicht Wegweiserfunktionen in einer globalen Welt sein, die den einzelnen Bürger auch überfordern kann.
Ich wäre aber unaufrichtig, würde ich die negativen Begleitumstände für mich nicht auch erwähnen. Ich war in der Schule im Fach Englisch immer besser als in Deutsch. Das bedeutet für mich bis heute, daß ich in der hochdeutschen Sprache eine gewisse Unsicherheit spüre. Für mich war diese Unsicherheit Grund genug, meinen Kindern diese Erfahrung dadurch zu ersparen, daß meine Frau und ich mit ihnen hochdeutsch sprechen. Leider ist es uns bisher noch nicht gelungen, ihnen die plattdeutsche Sprache auch als praktisch angewandte Sprache beizubringen. Da sie die Sprache jedoch sehr gut verstehen können, hoffe ich sehr, daß sie sie eines Tages auch sprechen werden. Da ich, wie schon erwähnt, von der kulturellen und sozialen Bedeutung dieser Sprache überzeugt bin, kann ich es ihnen nur wünschen.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf eine besondere Komponente der sozialen Bedeutung des Plattdeutschen hinweisen. „Platt” ist für mich in erster Linie eine Sprache des Gesprächs, ich deutete es ja schon an. Anders als die hochdeutsche Sprache eignet sie sich darum nicht zu geschliffenen Formulierungen. Unterschiede in der Bildung oder auch der sozialen Herkunft werden durch die Benutzung der plattdeutschen Sprache weniger offenkundig. Sie ist dadurch eine Sprache, die Vorurteile abbaut – für mich ein wichtiges Mittel, Spannungen, Ressentiments schneller bewältigen zu können.
Ich will ein Beispiel bringen: Mein Geburtsjahrgang ist 1947, und ich wohne direkt an der holländischen Grenze. Als Kinder bekamen wir die großen Spannungen nach dem Krieg zwischen Deutschen und Holländern direkt zu spüren. Ich habe erlebt, daß mein Vater es Anfang der fünfziger Jahre kaum wagte, nach Holland entlaufene Rinder zurückzuholen. Wenn ich die deutsch-holländische Beziehung heute rekapituliere, dann – glaube ich – hat die gemeinsame Sprache unter den Menschen beiderseits der Grenze schneller und tiefer zu entscheidenden Verbesserungen geführt. Ich bin heute davon überzeugt, daß die gemeinsame platte Sprache ein wesentliches Kriterium dazu war. Durch sie kam es abseits der großen Politik sehr viel schneller zu einem Gespräch der Menschen beiderseits der Grenze, in dem dann die Weichen in eine bessere Zukunft gestellt werden konnten.
Auch heute gibt es zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland und Holland große lnteressenskonflikte. Sie entstanden durch unterschiedliche Entwicklungen der Höfe und des dazugehörenden vor- und nachgelagerten Wirtschaftsbereichs. Wenn wir heute diese Interessensunterschiede als Freunde und Partner innerhalb der EU offen und manchmal auch hart diskutieren können, dann auch oder gerade wegen unserer gemeinsamen Sprache.
Wenn in der EU immer mehr von einem Europa der Regionen gesprochen wird, dann sind das für mich Regionen mit vergleichbaren Strukturen, identischen Interessen und mit einer gemeinsamen Kultur. Klammer Nummer eins in der Region hier im Grenzgebiet zu den Niederlanden wird unsere gemeinsame Sprache sein.