Friedrich Scholten

Sprache des Gesprächs

Ja, auch ich spreche plattdeutsch.

Es ist die Sprache, die an meiner Wiege gesprochen wurde und mit der ich aufgewachsen und groß geworden bin. Auch heute noch, wo ich im Dienst überwiegend die hochdeutsche Sprache spreche, denke ich plattdeutsch. Das äußert sich dadurch, daß mir manchmal unbeabsichtigt platt­deutsche Wörter im Gespräch herausrutschen. Für mich ein Zeichen dafür, wie tief sich die Muttersprache bei mir festgesetzt hat – „Mutters Sprache” eben.

Welche Bedeutung hat die plattdeutsche Sprache für mich heute? Wenn ich mich mit jemandem auf Platt un­terhalte, dann ist dort sofort eine größere Nähe zu spüren. Es ist für mich die Sprache des Gesprächs. Eine Kommunikationsebene und Kommunikationsmöglichkeit nach dem Gleichheits­prinzip. Für mich werden durch „Platt” Hierarchien abgebaut.

Auch glaube ich, daß die plattdeutsche Sprache besonders geeignet ist, kulturelle und soziale Nähe zu dokumentieren. Wie sonst sind die vielen mundartlichen Va­riationen zu erklären? Oftmals sind diese Nuancen ja schon zwischen einzelnen Bauernschaften zu erkennen. Fachleute sind in der Lage, den Herkunftsort – nicht nur den Kreis oder die Region – an der mundartlichen Ausgestaltung der plattdeut­schen Sprache des Gesprächspartners zu erkennen. Eine solche kleinräumige Dif­ferenziertheit ist bei der hochdeutschen Sprache unbekannt – für mich ein höchst bedeutsames Zeichen von Identität, in einer sich immer globaler gestaltenden Um­welt ein nicht hoch genug einzuschätzender Umstand. Ich bin davon überzeugt, daß in einem zusammenwachsenden Europa, in dem die nationalen Grenzen im­mer durchlässiger und damit weniger sichtbar sein werden, solche kulturellen und sozialen Kristallisationsmerkmale eine immer größere Bedeutung erlangen. Sie werden in Zukunft vielleicht Wegweiserfunktionen in einer globalen Welt sein, die den einzelnen Bürger auch überfordern kann.

Ich wäre aber unaufrichtig, würde ich die negativen Begleitumstände für mich nicht auch erwähnen. Ich war in der Schule im Fach Englisch immer besser als in Deutsch. Das bedeutet für mich bis heute, daß ich in der hochdeutschen Sprache eine gewisse Unsicherheit spüre. Für mich war diese Unsicherheit Grund genug, meinen Kindern diese Erfahrung dadurch zu ersparen, daß meine Frau und ich mit ihnen hochdeutsch sprechen. Leider ist es uns bisher noch nicht gelungen, ihnen die plattdeutsche Sprache auch als praktisch angewandte Sprache beizubringen. Da sie die Sprache jedoch sehr gut verstehen können, hoffe ich sehr, daß sie sie eines Tages auch sprechen werden. Da ich, wie schon erwähnt, von der kulturellen und sozialen Bedeutung dieser Sprache überzeugt bin, kann ich es ihnen nur wün­schen.

Ich möchte an dieser Stelle noch auf eine besondere Komponente der sozialen Be­deutung des Plattdeutschen hinweisen. „Platt” ist für mich in erster Linie eine Spra­che des Gesprächs, ich deutete es ja schon an. Anders als die hochdeutsche Spra­che eignet sie sich darum nicht zu geschliffenen Formulierungen. Unterschiede in der Bildung oder auch der sozialen Herkunft werden durch die Benutzung der plattdeutschen Sprache weniger offenkundig. Sie ist dadurch eine Sprache, die Vor­urteile abbaut – für mich ein wichtiges Mittel, Spannungen, Ressentiments schnel­ler bewältigen zu können.

Ich will ein Beispiel bringen: Mein Geburtsjahrgang ist 1947, und ich wohne di­rekt an der holländischen Grenze. Als Kinder bekamen wir die großen Spannun­gen nach dem Krieg zwischen Deutschen und Holländern direkt zu spüren. Ich ha­be erlebt, daß mein Vater es Anfang der fünfziger Jahre kaum wagte, nach Holland entlaufene Rinder zurückzuholen. Wenn ich die deutsch-holländische Beziehung heute rekapituliere, dann – glaube ich – hat die gemeinsame Sprache unter den Menschen beiderseits der Grenze schneller und tiefer zu entscheidenden Verbes­serungen geführt. Ich bin heute davon überzeugt, daß die gemeinsame platte Spra­che ein wesentliches Kriterium dazu war. Durch sie kam es abseits der großen Po­litik sehr viel schneller zu einem Gespräch der Menschen beiderseits der Grenze, in dem dann die Weichen in eine bessere Zukunft gestellt werden konnten.

Auch heute gibt es zwischen den landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland und Holland große lnteressenskonflikte. Sie entstanden durch unterschiedliche Entwicklungen der Höfe und des dazugehörenden vor- und nachgelagerten Wirt­schaftsbereichs. Wenn wir heute diese Interessensunterschiede als Freunde und Partner innerhalb der EU offen und manchmal auch hart diskutieren können, dann auch oder gerade wegen unserer gemeinsamen Sprache.

Wenn in der EU immer mehr von einem Europa der Regionen gesprochen wird, dann sind das für mich Regionen mit vergleichbaren Strukturen, identischen In­teressen und mit einer gemeinsamen Kultur. Klammer Nummer eins in der Region hier im Grenzgebiet zu den Niederlanden wird unsere gemeinsame Sprache sein.