Margret Heuking-Seeger

Abgewöhnen ging nicht


Plattdeutsch zu sprechen und in sehr vielen Situationen auch zu denken, zeigt mir bis heute immer wieder mei­ne Wurzeln. Ich bin zehn Jahre nach Kriegsende gebo­ren und gehöre bestimmt zu der Generation, der man das Plattdeutsche eigentlich „abgewöhnen” mußte, da­mit sie – wie es in den sechziger Jahren allgemein ge­sellschaftlich und wirtschaftlich der Fall war – „aufstre­ben” konnte, damit sie es „besser haben” meine Eltern, meine drei Brüder und ich wohnten – wie meine Großeltern und deren Vorfahren – in einem kleinen emsländischen Dörf­chen (Wettrup). So ein Dorf ist eine abgeschlossene Welt, in der jeder jeden kennt. Bis auf den Pfarrer und die Lehrer (damals hatten wir noch zwei in unserer klei­nen Volksschule) sprachen alle dieselbe Sprache -Plattdeutsch. Öffnete sich unse­re Welt einmal und fuhren wir (mein Vater erwarb sein erstes Auto, als ich sieben Jahre alt war) zu Verwandten oder Freunden, gab es auch dort keine Änderung in der gegenseitigen Verständigung: Man sprach plattdeutsch. Lediglich bei Einkäu­fen – in Lingen beispielsweise – hörte ich meine Eltern hochdeutsch sprechen und stellte als Kind deutlich fest: Das ist die Fremde, und es verschwand jene Art von Sicherheit oder Geborgenheit, die wir Kinder ansonsten kannten.

Ostern 1962 wurden wir eingeschult, meine Cousine und ich. Wir erwarteten die­sen Tag voller Vorfreude und Spannung – im Unterschied zu einigen Mitschülern, die voller Ängstlichkeit auf ihre Mütter schauten. Woher aber kam unsere unge­trübte Vorfreude? Wir hatten doch bereits Hochdeutsch geübt, das heißt, wir gehör­ten nicht zu den Schulneulingen, die in die Lage kommen konnten, ihre neue Leh­rerin eventuell nicht zu verstehen! Und tatsächlich war es so: Am ersten Schultag mußte sich unsere Lehrerin besonders große Mühe geben, sich verständlich zu machen; daß sie sich auch einiger plattdeutscher Ausdrücke bediente, um den Kin­dern den Schulanfang zu erleichtern, rief besonders bei uns sechs Mädchen Gelächter hervor, sprach sie doch alle plattdeutschen Wörter völlig falsch aus. Noch heute erinnere ich mich an die gemeinsamen Schulwege der ersten Tage: Hochdeutsche Sätze wie „Darf ich deinen Griffel nehmen?” oder „Meine Fibel hat einen neuen Umschlag” wurden akzentuiert ausgesprochen beziehungsweise geübt.

Von nun an wuchsen wir also „zweisprachig” auf – aber mit Beginn meiner Schul­zeit machten meine Eltern mir immer mehr deutlich, daß die plattdeutsche Spra­che mir eines Tages im Wege stehen werde. Sehr zum Leidwesen meiner Großel­tern gehörten auch meine Eltern zu denjenigen, die überzeugt waren, das Plattdeutsche verhindere einen höheren Schulabschluß. Allerdings wagten sie es nicht, innerhalb der Familie, der Verwandtschaft und Nachbarschaft das Hochdeutsche einzuführen – denn das hätte Ärger mit den Großeltern beziehungsweise die Iso­lation im eigenen Dorf bedeutet.

Als Kind spürte ich die Diskrepanz trotzdem sehr stark. Meine Großeltern, beson­ders meine Großmutter, waren gute Erzähler. Ihre Stärke bestand im Erzählen von lustigen Begebenheiten und Anekdoten aus den vorherigen Generationen. Wir Kinder lernten Onkel und Tanten unserer Eltern kennen mit all ihren Liebens­würdigkeiten und Schwächen. Manchmal zeigte meine Großmutter uns dazu auch noch die passenden Fotos. Ich erinnere mich daran, daß sie teilweise völlig andere Ausdrücke gebrauchte, als ich sie von meinen Eltern kannte. Bei ihr gab es „koatmaude” Blusen, die bei meiner Mutter „koatärmelich” waren – und besonders diese noch älteren Wörter reizten mich, hörten sie sich doch so gut an und hatten keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hochdeutschen.

Im Jahre 1963 – ich war acht Jahre alt und ging bereits über ein ganzes Jahr zur Schule – hatte ich (so sehe ich es heute) eine Art Schlüsselerlebnis mit der platt­deutschen Sprache. Da ich ziemlich untergewichtig war, sollte ich zwölf Wochen zur Kinderkur fahren, um (so war vielleicht die Vorstellung) als pausbackiges, ker­niges Kind zurückzukommen. Ich fuhr nach Oberammergau und sprach in der ge­samten Zeit dort kein einziges plattdeutsches Wort. Dort lernte ich einen anderen Dialekt kennen, das Bayrische, und habe erfahren, wie schnell eine Dialektfärbung (besonders bei Kindern) erfolgen kann. Zwölf Wochen Trennung von der gewohn­ten Umgebung, von Eltern und Geschwistern waren für mich damals eine halbe Ewigkeit. Erst einen Tag vor meiner Abreise aus Oberammergau kam mir er­schreckend klar zu Bewußtsein, daß ich nicht mehr plattdeutsch sprechen konnte. In all der Zeit dort hatte ich nur schriftlichen Kontakt mit Zuhause gehabt, und der war selbstverständlich hochdeutsch (an diese Briefe meiner Eltern, die nicht die ge­wohnte Wärme und Anteilnahme ausdrücken konnten, erinnere ich mich – da ich dort sehr unter Heimweh litt – schmerzlich). Mein ältester Bruder drückte nach meiner Ankunft sein eher entsetztes Erstaunen darüber in seiner Frage „Kanns du denn goa kien Plattdütsk mehr” aus, die ich nie vergessen habe.

Ich fühlte mich plötzlith fremd. Ich weiß heute nicht mehr, wie lange es dauerte, bis ich mich wieder heimisch fühlte; aber eine für mich wichtige Begebenheit ha­be ich noch klar vor Augen. Meine Mutter hatte es tagelang beobachtet, daß ich Schwierigkeiten mit dem Plattdeutschen hatte. Teilweise lachte sie über meine „Mischmasch-Sätze” (wie sie sie nannte). Und dann machte sie mir den Vorschlag, der doch drängenden Charakter hatte, beim Hochdeutschen zu bleiben. Für die Schule und mein späteres Leben sei das sowieso besser, und jetzt sei der günstig­ste Zeitpunkt für eine Umstellung. Ich glaube nicht, daß meiner Mutter damals überhaupt bewußt war, was sie mir da riet. Ich erinnere mich daran, daß ich die­sen Vorschlag – wohl wissend, was er bedeutete – kategorisch abgelehnt habe. Noch mehr und häufiger weilte ich bei meiner Großmutter und folgte ihr auf Schritt und Tritt, um mir mein plattdeutsches heimisches Gefilde wieder zurück­zuerobern (wobei meine Großmutter, die Mutters „Vorschlag” wohl vernommen hatte, mir besonders freudig half).

Im Laufe der nächsten Jahre war die Frage Plattdeutsch oder Hochdeutsch nach und nach unwichtig geworden, da meine Eltern merkten, daß wir Kinder mühelos das Plattdeutsche und Hochdeutsche miteinander vereinbaren konnten. Allerdings ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben, daß wir in vielen Gesprächssituationen außerhalb unseres Dorfes nicht unbedingt zu erkennen geben sollten, daß wir des Plattdeutschen mächtig waren; Plattdeutschsprechen war wohl gleichzusetzen mit völliger Rückständigkeit, einem Dasein jenseits von Kultur und Bildung. Wir Kin­der erspürten diese Situation, wenn wir, mit unseren Eltern unterwegs waren, ganz intuitiv – ein Verbot, plattdeutsch zu sprechen, ist nie ausgesprochen worden.

Ich habe dann später „trotz” plattdeutscher Sprache das Abitur gemacht und zu­dem ausgerechnet Germanistik studiert. Nachteile hat mir persönlich die platt­deutsche Sprache nicht gebracht; ich möchte eher auf meine Vorteile im Englisch­unterricht und später im Studium beim Übersetzen des Mittelhochdeutschen hin­weisen. Zudem heben mit Sicherheit viele Ausdrucksmöglichkeiten, die ich be­nutze, ihren festen Platz im plattdeutschen Sprachgebrauch.

Heute spreche ich fast ausschließlich hochdeutsch; ich bin Lehrerin und unter­richte das Fach Deutsch in der Erwachsenenbildung. In den Jahren meiner Unter­richtstätigkeit ist es allerdings einmal vorgekommen, daß ich einen Schüler hatte, der zu Unterrichtsbeginn fast kein Hochdeutsch sprach, und diesem Schüler konn­te ich durch mein Plattdeutsch die anfänglichen Barrieren abbauen. Inzwischen leite ich eine Seniorenarbeitsgruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, die sogenannte „alte Zeit” zum Leben zu erwecken. In einer 60minütigen Radiosendung (Ems-Vechte-Welle) mit dem Titel „Fröher gaft dat nich…” berichten die Senioren – natür­lich auf Plattdeutsch – aus ihrer Zeit. Diese Arbeit macht mir sehr viel Freude – se­he ich dadurch oft wieder das kleine Mädchen vor mir, das gespannt lächelnd sei­ner aus alten Zeiten erzählenden Großmutter lauschte.

Soziale und kulturelle Komponenten sind immer eng verbunden mit der Sprache, die diese im großen Maße bedingen, wobei dieser „Dialekt” nicht unmittelbar in eine „andere Sprache” transferiert werden kann, haben doch „Übersetzungen” le­diglich approximativen Charakter, wobei die eigentliche Semantik (Assoziationen, Konnotationen, Denotationen) häufig „auf der Strecke” bleiben muß. Demgemäß sehe ich die plattdeutsche Sprache als wichtiges Medium an, das alte „Werte”, sprich Kulturgüter, im Original rettet. Dabei kommt der zunehmende Trend, Platt­deutsch wieder salonfähig zu machen, diesem Ansinnen sicherlich sehr entgegen.

Auf den Punkt gebracht: Wenn wir unseren Kindern eine Vorstellung vom Leben ihrer Vorfahren erhalten wollen und ihnen damit ermöglichen, ihre Existenz als Kontinuum zu begreifen, müssen wir vor allen Dingen die Sprache ihrer Vorfahren erhalten.