Dr. Josef Stecker

Eine plattdeutsche Begrüßung

Als ich 1916 das Licht des Emslandes erblickte, wurde ich mit einem ganz besonderen plattdeutschen Gruß empfangen. Das war so: Die männlichen Mitglieder un­ser

er Großfamilie waren als Soldaten im Felde, und so wirkte in den Kriegsjahren ein angeheirateter „Onkel Dirk”, der wegen eines Unfallschadens nicht Soldat war, als “Taufpate vom Dienst”. Er war Junggeselle und ein lebensfroher Schalk. Als er sich humpelnd in feier­lichem Gehrock auf den Weg zu meiner Taufe in der Werlter Kirche machte, soll er – wohl auch mit einem ge­wissen Stolz auf seine Würde – gesagt haben: „Daor bünnt de Keerlße in Urlaub wään, und ich mott wär mit’n Zylinder taugänge!” Immerhin erhielt ich von ihm seinen.schönen Vornamen Theodor als Zweitnamen und ein goldenes 20 Mark-Stück als Taufgeschenk.

Auch sonst spielte sich in der damaligen Zeit auf dem Hümmling noch alles in platt­deutscher Sprache ab. In Wehm bei Werlte, meinem Geburtsort mit 400 Einwoh­nern, lernten die Kinder in der einklassigen Volksschule das Hochdeutsche als er­ste Fremdsprache. Und meinem Vater war das als Lehrer auch sehr recht, denn die Versuche mancher sich schon etwas städtisch dünkenden Eltern, ihren Kindern Hochdeutsch beizubringen, führten oft zu schwer ausrottbaren sprachlichen Fehl­leistungen. Da war es schon besser, wenn den Kindern vom Lehrer im ersten Schuljahr beigebracht wurde, daß aus dem „Pärd” ein Pferd, aus der ,Tunge” eine Zunge und aus dem „Dood” ein Tod wurde – praktische Beispiele der zweiten sprachlichen Lautverschiebung, die wir Niederdeutschen ja nicht mitgemacht ha­ben. Die Schwierigkeiten, „mir” und „mich” zu unterscheiden, blieben allerdings trotz aller Lehrermühen oft bis ins Alter erhalten. Mein Vater pflegte das etwas re­signierend zu kommentieren: Hauptsache, daß sie gelernt haben, Mein und Dein zu unterscheiden.

Bei uns zu Haus war der Sprachgebrauch etwas komplizierter. Die Eltern und Großeltern sprachen zwar mit uns Kindern hochdeutsch, aber untereinander nur plattdeutsch, obwohl sie in unterschiedlichen Regionen unseres Vaterlandes auf­gewachsen waren: Auf dem Hümmling, im benachbarten Oldenburger Münster-land, im Kreis Höxter und in Bremen. Man mixte eben die verschiedenen Dialek­te mit Tendenz zum Hümmlinger Platt, das wir Kinder sehr bald von unseren Spiel­freunden lernten. Vielleicht hat bei mir das bewußte Erlebnis der unterschiedli­chen Dialekte ein besonders herzliches Verhältnis zu unserer Heimatsprache er­zeugt: Ich käme mir heute noch im hohen Alter komisch vor, wenn ich mit meinen Geschwistern hochdeutsch sprechen würde – ganz gleich, wo wir uns begeg­nen, und das Gleiche gilt, wenn ich irgendwo in der Welt Hümmlinger Landsleu­ten begegne.

Vorbild waren mir dabei auch zwei akademische Originale, die in meiner Kindheit in Werlte tätig waren: Der als Heimatschriftsteller bekannt gewordene Apotheker Trautmann und der einzige Arzt im östlichen Hümmling, Sanitätsrat Dr. Meister­mann. Beide lebten mit dem plattdeutschen Volk und fühlten sich in der Sprache des Volkes zu Hause. „Ick segge, daut mien’ n Foß man en Stück Broot”, pflegte der Doktor zu sagen, wenn er bei einem armen Schlucker eines der vielen Kinder be­handelt hatte und nach dem Honorar gefragt wurde. „Dei Foß” – das war sein treu­es Kutschpferd, das ihn auf den weiten Fahrten von Esterwegen und Lorup bis Lahn und Ahmsen befördern mußte. Und wenn ein Patient über Verstopfung klag­te, lautete die Therapie gelegentlich schlicht: „Ick segge, Löninger Bäier, wenn eei-ne Fläske nich helpet, dänn twäie.”

Die Nachfolger dieser Originale waren dann nur noch „Hochdeutsche”, wie über­haupt in den zwanziger und dreißiger Jahren das Plattdeutsche immer mehr in den Ruf einer Sprache für das „einfache Volk” kam. Die Menschen auch im Emsland wurden durch Krieg und Nachkriegszeit mobiler; Zeitung und Radio fanden Ver­breitung und lieferten hochdeutschen Gesprächsstoff, so daß immer mehr das Plattdeutsche der ganz flachen Umgangssprache vorbehalten blieb. Die Naziherr­schaft tat ein Übriges: Alte Heimatfreunde, die bewußt die plattdeutsche Sprache gepflegt hatten, zogen sich vielfach zurück, weil ihnen die Blut- und Boden-Ideo­logie mit ihrer braunen Soße die Heimatarbeit vergällt hatte.

Ich selbst kam dann nach dem letzten Krieg noch einmal so richtig in die platt­deutsche Praxis, als ich in meiner Ausbildung als Referendar beim Amtsgericht Sö-gel und dem dortigen Rechtsanwalt Beimesche einige Zeit verbrachte und die rechtssuchenden alten Menschen meine bevorzugten Klienten waren. Ich habe so manches Mal in den Augen dieser Leute ein Leuchten gesehen, wenn ich ihnen sagte, sie könnten mir auf Plattdeutsch ihr Anliegen vortragen. Sie hatten ja außer der sonntäglichen Predigt nur in und mit ihrer Muttersprache gelebt; und nun soll­ten komplizierte Sachverhalte hochdeutsch niedergelegt werden. Da waren platt­deutsche Erläuterungen und Umschreibtingen schon sehr hilfreich, und diese machten mir selbst auch viel Freude.

So fand ich denn auch sehr schnell Zugang zu den plattdeutschen Heimatfreunden in Meppen, als ich als junger Oberkreisdirektor dort Anfang der fünfziger Jahre meine Arbeit aufnahm. Maria Mönch-Tegeder, damals Lehrerin an der Kreisbe­rufsschule, hat mich als echten Emsländer geradezu enthusiastisch begrüßt. Ich sollte wohl als ein richtiger ‚Jung-Siegfried” die verwackelte Heimatfront wieder auf Linie bringen. Und in der Tat: Sie hat mich mit ihren Erzählungen, Geschich­ten und Anekdoten, aber besonders auch mit einer ausgeprägten persönlichen Lie­benswürdigkeit für die Heimatarbeit und besonders auch für die Pflege des Plattdeutschen begeistert. Da war es nur eine natürliche Folge, daß wir mit der Grün­dung des Emsländischen Heimatbundes unseren Bemühungen auch den gehöri­gen Rahmen gaben.

Die Arbeit durfte ja nicht zur Heimattümelei verkommen, und gerade im Rahmen der großen Emslanderschließung durften wir nicht einfach Überkommenes kon­servieren, es mußte auf bewährter Grundlage und im echten emsländischen Geist weiterentwickelt werden. Meine Devise in allen Bereichen war deshalb: „Handle so, wie die besten unserer Vorfahren handeln würden, wenn sie heute lebten.” Und das heißt für die plattdeutsche Sprache, daß wir diese nicht auf breiter Grund­lage als Umgangssprache erhalten können.

Aber das heißt auch, daß wir sie nicht einfach abschreiben dürfen. Jede zusätzli­che Sprache ist ja eine Bereicherung und eine Hilfe für die lebendige Weiterent­wicklung der Schriftsprache. Ich selbst empfinde Plattdeutsch auch heute noch als eine uns Norddeutschen besonders gemäße Sprache, die ich immer gern als „Ein­schub” bei Unterhaltungen verwende: Sie ist manchmal hart, aber nicht verlet­zend, eher gemütlich und zutraulich, eine Nahsprache, die Menschen zusammen­führen kann, eine Hilfe bei der Suche nach Menschlichkeit und Geborgenheit. Deshalb ist es schon des Schweißes der Edlen wert, die Pflege des Plattdeutschen in Wort und Schrift in Schulen, „Schrieverkringen”, Vorlesewettbewerben und an­deren Heimatveranstaltungen lebendig zu erhalten.