Eine plattdeutsche Begrüßung
Als ich 1916 das Licht des Emslandes erblickte, wurde ich mit einem ganz besonderen plattdeutschen Gruß empfangen. Das war so: Die männlichen Mitglieder unser
er Großfamilie waren als Soldaten im Felde, und so wirkte in den Kriegsjahren ein angeheirateter „Onkel Dirk”, der wegen eines Unfallschadens nicht Soldat war, als “Taufpate vom Dienst”. Er war Junggeselle und ein lebensfroher Schalk. Als er sich humpelnd in feierlichem Gehrock auf den Weg zu meiner Taufe in der Werlter Kirche machte, soll er – wohl auch mit einem gewissen Stolz auf seine Würde – gesagt haben: „Daor bünnt de Keerlße in Urlaub wään, und ich mott wär mit’n Zylinder taugänge!” Immerhin erhielt ich von ihm seinen.schönen Vornamen Theodor als Zweitnamen und ein goldenes 20 Mark-Stück als Taufgeschenk.
Auch sonst spielte sich in der damaligen Zeit auf dem Hümmling noch alles in plattdeutscher Sprache ab. In Wehm bei Werlte, meinem Geburtsort mit 400 Einwohnern, lernten die Kinder in der einklassigen Volksschule das Hochdeutsche als erste Fremdsprache. Und meinem Vater war das als Lehrer auch sehr recht, denn die Versuche mancher sich schon etwas städtisch dünkenden Eltern, ihren Kindern Hochdeutsch beizubringen, führten oft zu schwer ausrottbaren sprachlichen Fehlleistungen. Da war es schon besser, wenn den Kindern vom Lehrer im ersten Schuljahr beigebracht wurde, daß aus dem „Pärd” ein Pferd, aus der ,Tunge” eine Zunge und aus dem „Dood” ein Tod wurde – praktische Beispiele der zweiten sprachlichen Lautverschiebung, die wir Niederdeutschen ja nicht mitgemacht haben. Die Schwierigkeiten, „mir” und „mich” zu unterscheiden, blieben allerdings trotz aller Lehrermühen oft bis ins Alter erhalten. Mein Vater pflegte das etwas resignierend zu kommentieren: Hauptsache, daß sie gelernt haben, Mein und Dein zu unterscheiden.
Bei uns zu Haus war der Sprachgebrauch etwas komplizierter. Die Eltern und Großeltern sprachen zwar mit uns Kindern hochdeutsch, aber untereinander nur plattdeutsch, obwohl sie in unterschiedlichen Regionen unseres Vaterlandes aufgewachsen waren: Auf dem Hümmling, im benachbarten Oldenburger Münster-land, im Kreis Höxter und in Bremen. Man mixte eben die verschiedenen Dialekte mit Tendenz zum Hümmlinger Platt, das wir Kinder sehr bald von unseren Spielfreunden lernten. Vielleicht hat bei mir das bewußte Erlebnis der unterschiedlichen Dialekte ein besonders herzliches Verhältnis zu unserer Heimatsprache erzeugt: Ich käme mir heute noch im hohen Alter komisch vor, wenn ich mit meinen Geschwistern hochdeutsch sprechen würde – ganz gleich, wo wir uns begegnen, und das Gleiche gilt, wenn ich irgendwo in der Welt Hümmlinger Landsleuten begegne.
Vorbild waren mir dabei auch zwei akademische Originale, die in meiner Kindheit in Werlte tätig waren: Der als Heimatschriftsteller bekannt gewordene Apotheker Trautmann und der einzige Arzt im östlichen Hümmling, Sanitätsrat Dr. Meistermann. Beide lebten mit dem plattdeutschen Volk und fühlten sich in der Sprache des Volkes zu Hause. „Ick segge, daut mien’ n Foß man en Stück Broot”, pflegte der Doktor zu sagen, wenn er bei einem armen Schlucker eines der vielen Kinder behandelt hatte und nach dem Honorar gefragt wurde. „Dei Foß” – das war sein treues Kutschpferd, das ihn auf den weiten Fahrten von Esterwegen und Lorup bis Lahn und Ahmsen befördern mußte. Und wenn ein Patient über Verstopfung klagte, lautete die Therapie gelegentlich schlicht: „Ick segge, Löninger Bäier, wenn eei-ne Fläske nich helpet, dänn twäie.”
Die Nachfolger dieser Originale waren dann nur noch „Hochdeutsche”, wie überhaupt in den zwanziger und dreißiger Jahren das Plattdeutsche immer mehr in den Ruf einer Sprache für das „einfache Volk” kam. Die Menschen auch im Emsland wurden durch Krieg und Nachkriegszeit mobiler; Zeitung und Radio fanden Verbreitung und lieferten hochdeutschen Gesprächsstoff, so daß immer mehr das Plattdeutsche der ganz flachen Umgangssprache vorbehalten blieb. Die Naziherrschaft tat ein Übriges: Alte Heimatfreunde, die bewußt die plattdeutsche Sprache gepflegt hatten, zogen sich vielfach zurück, weil ihnen die Blut- und Boden-Ideologie mit ihrer braunen Soße die Heimatarbeit vergällt hatte.
Ich selbst kam dann nach dem letzten Krieg noch einmal so richtig in die plattdeutsche Praxis, als ich in meiner Ausbildung als Referendar beim Amtsgericht Sö-gel und dem dortigen Rechtsanwalt Beimesche einige Zeit verbrachte und die rechtssuchenden alten Menschen meine bevorzugten Klienten waren. Ich habe so manches Mal in den Augen dieser Leute ein Leuchten gesehen, wenn ich ihnen sagte, sie könnten mir auf Plattdeutsch ihr Anliegen vortragen. Sie hatten ja außer der sonntäglichen Predigt nur in und mit ihrer Muttersprache gelebt; und nun sollten komplizierte Sachverhalte hochdeutsch niedergelegt werden. Da waren plattdeutsche Erläuterungen und Umschreibtingen schon sehr hilfreich, und diese machten mir selbst auch viel Freude.
So fand ich denn auch sehr schnell Zugang zu den plattdeutschen Heimatfreunden in Meppen, als ich als junger Oberkreisdirektor dort Anfang der fünfziger Jahre meine Arbeit aufnahm. Maria Mönch-Tegeder, damals Lehrerin an der Kreisberufsschule, hat mich als echten Emsländer geradezu enthusiastisch begrüßt. Ich sollte wohl als ein richtiger ‚Jung-Siegfried” die verwackelte Heimatfront wieder auf Linie bringen. Und in der Tat: Sie hat mich mit ihren Erzählungen, Geschichten und Anekdoten, aber besonders auch mit einer ausgeprägten persönlichen Liebenswürdigkeit für die Heimatarbeit und besonders auch für die Pflege des Plattdeutschen begeistert. Da war es nur eine natürliche Folge, daß wir mit der Gründung des Emsländischen Heimatbundes unseren Bemühungen auch den gehörigen Rahmen gaben.
Die Arbeit durfte ja nicht zur Heimattümelei verkommen, und gerade im Rahmen der großen Emslanderschließung durften wir nicht einfach Überkommenes konservieren, es mußte auf bewährter Grundlage und im echten emsländischen Geist weiterentwickelt werden. Meine Devise in allen Bereichen war deshalb: „Handle so, wie die besten unserer Vorfahren handeln würden, wenn sie heute lebten.” Und das heißt für die plattdeutsche Sprache, daß wir diese nicht auf breiter Grundlage als Umgangssprache erhalten können.
Aber das heißt auch, daß wir sie nicht einfach abschreiben dürfen. Jede zusätzliche Sprache ist ja eine Bereicherung und eine Hilfe für die lebendige Weiterentwicklung der Schriftsprache. Ich selbst empfinde Plattdeutsch auch heute noch als eine uns Norddeutschen besonders gemäße Sprache, die ich immer gern als „Einschub” bei Unterhaltungen verwende: Sie ist manchmal hart, aber nicht verletzend, eher gemütlich und zutraulich, eine Nahsprache, die Menschen zusammenführen kann, eine Hilfe bei der Suche nach Menschlichkeit und Geborgenheit. Deshalb ist es schon des Schweißes der Edlen wert, die Pflege des Plattdeutschen in Wort und Schrift in Schulen, „Schrieverkringen”, Vorlesewettbewerben und anderen Heimatveranstaltungen lebendig zu erhalten.