4. Schlussbetrachtung

 

Die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung kann man in fünf Punkten fest­halten:

  1. Unsere Vermutung, daß die aktive Kompetenz der Schüler im Primarbereich gegen 0% geht, scheint bestätigt.
  2. Die relativ hohen Werte im Bereich der passiven Kompetenz waren so nicht vermutet worden.
  3. Die hohe Elternbeteiligung an der Umfrageaktion zeigt das starke Interesse am Er­halt der plattdeutschen Dialekte. Diese Erkenntnis wird bestätigt durch Angaben der Eltern im Bereich der Erwünschtheit des Dialekts in der Schule und in den Medien.
  4. Die Eltern trauen sich nicht, im Vorschulalter mit den Kindern in der Mundart zu sprechen, da sie schulische Nachteile für ihre Kinder daraus erwarten. Die Schule selbst allerdings soll nach Meinung von über 65% der Eltern (68% der Mütter) den Umgang mit dem Plattdeutschen bei den Kindern stärker fördern.
  5. Die (subjektive) Einschätzung der Dialektkompetenz der Kinder durch die Eltern, die in bisherigen Untersuchungen meist nicht durch (objektive) Sprachdaten über­prüft wurde, ist zum Teil sehr fehlerhaft.

Zwar wird dem Niederdeutschen schon seit geraumer Zeit der Untergang pro­phezeit, ohne daß er eingetreten wäre, allerdings haben solche deprimierenden Zahlen wie nach dieser Befragung bisher nicht vorgelegen. Möglicherweise wird es in den nächsten Generationen noch einige Enklaven des Plattdeutschen geben, bezogen auf den gesamten Landkreis Emsland jedoch muß mit einem endgültigen Aussterben dieser Mundart in der nächsten oder übernächsten Generation gerechnet werden, wenn nicht grundlegende Änderungen im Sprachverhalten der Bevölkerung eintreten. Diese Erkenntnis wird sich nicht auf das Emsland beschränken, sondern in weiten Bereichen des niederdeutschen Sprachraumes ebenfalls Gültigkeit haben.

Zwei Gegebenheiten werden diesen rasanten Verfall des Plattdeutschen begün­stigen:

  1. Die Landwirtschaft, die auch in unserer Untersuchung als Hauptdomäne des Niederdeutschen ausgewiesen wurde, befindet sich z.Zt. in einer enormen wirtschaftlichen Krise, die sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird, wenn die un‑abdingbare Angleichung der Agrarpreise an das Weltmarktniveau sich vollziehen wird. Schon jetzt sterben jeden Tag etwa 50 Höfe in der Bundesrepublik, wobei der Raum Weser-Ems überproportional beteiligt ist.
  1. Wenn man die Mundart als Kind nicht erlernt hat, wird man sie als Erwachsener kaum noch voll erlernen können — wir erfahren es in unserer Umgebung ja ständig, wie schwer der natürliche spätere Erwerb für Interessierte ist. Auch auf die Verwendung als typische Berufssprache, etwa in den verschiedenen Sparten des Bauhandwerkes, wird sich das negativ auswirken.

Folgende Veränderungen müßten unserer Meinung nach bewirkt oder gefördert werden (vgl. hierzu auch Kremer 1990 und Speckmann 1991):

  • Der plattdeutschen Sprache müßte mit entsprechenden Aktionen der Makel der Minderwertigkeit genommen werden, nach dem Motto: Wer plattdeutsch spricht, beherrscht eine Sprache mehr!
  • Das Verhaltensmuster des Plattsprechers gegenüber dem Lernenden muß sich ändern, d.h. der Plattsprecher darf nicht sofort ins Hochdeutsche überwechseln, wenn sein Gegenüber die Mundart (noch) nicht fließend beherrscht.
  • Die Lehrpersonen, die Schulaufsichtsämter, ja das Kultusministerium müßten sich verstärkt dieser offensichtlichen Plattdeutschmisere annehmen, da sie anscheinend immer noch von der falschen Annahme ausgehen, daß die Schüler in den ländlichen Regionen durch die im Elternhaus erfahrene sprachliche Sozialisation Plattdeutschsprecher seien, was mit dieser Untersuchung widerlegt sein dürfte.

Wir möchten über die reine Auswertung unserer Daten hinausgehen und es auch bei allgemeinen Schlußfolgerungen aus unseren Untersuchungsergebnissen bewenden lassen, sondern daneben eine Diskussion über didaktisch-methodische Konsequenzen und ihre — zumindest versuchsweise — schulische Umsetzung in Gang bringen. Daher sollen abschließend einige Punkte aus einem auswertenden Gespräch mit dem Heraus‑ geber eines plattdeutschen Lesebuchs, Schulamtsleiter Alfred Möllers (Osnabrück‑Land), referiert werden.

In bezug auf eine Neubewertung des schulischen Sprachpflegeauftrags für das Plattdeutsche sind zunächst folgende Fragen zu stellen:

  1. Kann es der Schule gelingen, im Rahmen der Grundschulzeit Kindern nicht nur zu einem passiven Sprachverständnis für das Plattdeutsche zu verhelfen, sondern sie zu aktiven Plattsprechern zu machen?
  1. Dient ein solcher Aufgabenansatz, der als Zweitsprachenerwerb einzustufen ist, den neueren Bemühungen des Kultusministeriums, Fremdsprachenerziehung in den Grundschulauftrag einzubeziehen?
  1. Ersetzt das Erlernen des Plattdeutschen wegen der hohen Sprachverwandtschaft zwischen dem Niederdeutschen. dem Niederländischen und dem Englischen sogar den Englischunterricht in der Grundschule? Vorliegende Forschungsergebnisse legen eindeutig nahe, daß durch das Erlernen einer zweiten Sprache — zumindest dann, wenn ein kontrastiver Sprachunterricht gegeben wird — das passive Sprach‑ verständnis für weitere Sprachen entscheidend grundgelegt wird (vgl. Anregungenzur Einbeziehung des Niederdeutschen etwa bei Kempen 1989).

    Möllers schlägt deshalb folgendes vor: Ein Schulversuch ist gegenwärtig der angemessene Weg, um in der Theorie-Praxis-Auseinandersetzung Erkenntnisse zu gewinnen, die einer Revision des augenblicklichen Plattdeutsch-Erlasses eine Grundlage geben können. In dem Schulversuch sollten Grundschulkinder vom zweiten bis zum Abschluß des vierten Schuljahres im Rahmen eines freiwilligen Zusatzangebotes pro Woche zwei Stunden Plattdeutschunterricht erhalten. Dieser Unterricht sollte nach den Gesichtspunkten der Fremdsprachendidaktik und -methodik erteilt werden. Das Curriculum müßte — vergleichbar dem Deutschunterricht — einen Grundwortschatz vermitteln, mit dessen Hilfe die Kinder solche Alltagssituationen sprachlich bewälti‑ gen können, wie sie z.B. den Units der Englisch-Lehrwerke zugrundeliegen (diese bedürfen selbstverständlich eines entsprechenden Zuschnitts auf die Bedürfnisse des hiesigen ländlichen Raumes).

    Da in den Regionen Emsland und Osnabrück plattdeutsche Lesebücher vorliegen, können Lehrer bereits auf geeignetes Lehrmaterial zurückgreifen. Die Konzipierung eines Curriculums kann gleichfalls in der Region geleistet werden, da hier bereits plattdeutsche Lehrer-Arbeitsgemeinschaften bestehen. Diese Lehrerschaft hat durch die Leitung von Plattdeutsch-Schülerarbeitsgemeinschaften zudem eine reiche didak‑ tische und methodische Erfahrung. Die wissenschaftliche Begleitung des Schulversuches könnte durch ein Expertenteam aus der Lehrerschaft, der Schulbehörde und den Hochschulen im niederdeutschen Sprachgebiet (z.B. den Lehrstühlen für Niederdeutsch oder für Didaktik des Deutschen/Englischen) geleistet werden.

    Anmerkungen

    1 Die Befragung wurde von Kremer in Zusammenarbeit mit dem Schulamt des Kreises Borken im Jahre 1981 durchgeführt, die Ergebnisse wurden in zusammengefaßter Form veröffentlicht in Kremer 1983: 77ff.

    2 Der Leiter des Schulaufsichtsamtes Emsland, Herr Schulamtsdirektor Alfons Lögering, nahm dankenswerterweise die Idee der kombinierten Schüler- und Elternbefragung sofort auf und richtete zu ihrer Vorbereitung eine fünfköpfige Arbeitsgruppe unter seiner Leitung ein.

    3 Wir danken Herrn Frerk Möllers, Gen nanistisches Seminar der Universität Kiel, für seine Hilfe bei der datentechnischen Auswertung unserer Befragung.

    4 Die Ergebnisse wurden gegenüber der ursprünglichen, sehr differenzierten Einteilung zu insgesamt 6 Berufsgruppen zusammengefaßt (in der Tabelle fett gedruckt), um die Auswertung überschaubar zu halten und signifikante Aussagen zu ermöglichen.

    5 Diese Spanne erhöht sich noch auf 33% bei den Männern und 46,5% bei den Frauen (nicht tabelliert), wenn wir nur die Teilgruppe der Freien Berufe/selbst. Akademiker mit den Arbeitern korrelieren.