Prof. Dr. Hans Taubken (Münster)

Die Wissenschaft vom Platt

Um es vorweg deutlich zu sagen: Das Plattdeutsche ist zwar die Sprache meiner Mutter, aber es ist nicht mei­ne „Muttersprache”. Mir erging es wohl nicht anders als vielen Altersgenossen in den norddeutschen Klein­städten nach dem zweiten Weltkrieg. Deren Eltern wa­ren im sprachlichen Umgang mit ihren Kindern zum Hochdeutschen übergegangen – aus welchen Gründen auch immer.

Dennoch war das Plattdeutsche rundherum präsent: wenn meine Eltern mit ihren Eltern oder mit ihren Ge­schwistern sprachen, wenn ein Onkel bei Familienfe­sten plattdeutsche Lieder zum besten gab, wenn die Mutter meines Spielkamera­den gern plattdeutsche Wörter gebrauchte, um uns zu erheitern. Hinzu kam die Nähe zum Dorf Altenlingen, wo wir als Kinder im Herbst Kartoffeln sammelten und wo manche plattsprechenden Schulkameraden wohnten; die eine oder ande­re plattdeutsche Wendung prägte sich als Variante neben dem Hochdeutschen still­schweigend ein. Ich hatte in meiner Kindheit zwar ein plattdeutsches Ohr, aber keine plattdeutsche Zunge, das heißt: meine nicht gerade umfangreichen Kennt­nisse des Plattdeutschen waren mehr passiver Art.

Vielleicht hat das aber den Ausschlag gegeben, daß mich später während des Ger­manistikstudiums in Münster die niederdeutsche Sprache und Literatur besonders interessierte. Eine meiner ersten Seminararbeiten behandelte die Flurnamen von Altenlingen, die ich in direkter Befragung vor Ort, aber auch durch die Bearbeitung von Hofesakten und älteren archivalischen Quellen ermittelte. Als Student mit dem Ziel des Lehramtes an Gymnasien war mein Studium zum größten Teil auf die Schule hin konzipiert. Eine Wende bedeutete für mich das Angebot eines meiner akademischen Lehrer, über die wechselhafte Sprachgeschichte der Grafschaft Lin-gen vom Niederdeutschen zum Niederländischen und schließlich zum Hochdeut­schen zu promovieren. Als mir dann noch eine Stelle als wissenschaftlicher Mit­arbeiter am großlandschaftlichen Westfäliscilen Wörterbuch in Münster angebo­ten wurde, fiel mir der Entschluß leicht, mich künftig beruflich ganz der nieder­deutschen Sprache und Literatur zu widmen.

Das Bearbeitungsgebiet des Wörterbuchs umfaßte auch den emsländisch-bentheimischen Raum, für den ich mich natürlich besonders interessierte. Die lange Zu­sammenarbeit mit dem Hauptlehrer Bernhard Garmann, der eine Sprichwortsammlung in der Mundart von Beesten zusammengetragen hatte, war für mich zunächst der intensivste Einblick in einen emsländischen Ortsdialekt (1978). Meine inzwischen beruflich erworbenen fachwissenschaftlichen Kenntnisse führten nach zahlreichen Befragungen innerhalb des emsländisch-bentheimischen Raumes zu einer umfangreichen Studie über die Lautgeographie der emsländischen Mundarten in der Veröffentlichungsreihe der Emsländischen Landschaft (1985). Eine besondere Bereicherung war die mehrjährige Zusammenarbeit mit Dr. Heinrich Book am Hümmlinger Wörterbuch, von dem soeben eine zweite, stark er­weiterte Auflage erschienen ist.

Meine Mitarbeit in der 1983 gegründeten Augustin-Wibbelt-Gesellschaft e.V., in deren Auftrag ich die plattdeutschen Werke des ostmünsterländischen Dialekt­autors neu herausgebe, hat inzwischen dazu geführt, daß ich eine recht ansehnli­che aktive Kompetenz der münsterländischen Mundart erlangt habe.

Als Lehrbeauftragter an der Universität Paderborn (seit 1978) habe ich Gelegen­heit, den Studierenden Kenntnisse über die tausendjährige Geschichte des Nie­derdeutschen, über seine Sprache und Literatur von den älteren Zeiten bis in die Gegenwart zu vermitteln.

Rein beruflich gesehen ist das Plattdeutsche für mich in erster Linie ein For­schungsgegenstand. Die Ergebnisse anderer Wissenschaftler und meine eigenen publizierten und nicht publizierten Forschungen auch an weitere interessierte Per­sonenkreise weiterzugeben, ist mir gelegentlich durch Vorträge möglich. Ein Pub­likum durch lustige plattdeutsche Veranstaltungen zu erheitern, liegt mir allerdings fern. Im übrigen bin ich ein ausgesprochener Freund des plattdeutschen Bühnen­spiels: In keinem Jahr lasse ich mir den Besuch von zwei oder drei Theaterstücken entgehen.

Der erwähnte Autor Wibbelt hat einmal in einer Abhandlung geschrieben: „Der Professor kann das Plattdeutsche nicht retten, der Dichter kann es.” Ich meine, ein Wissenschaftler hat nicht die Aufgabe, das Plattdeutsche zu retten, sondern es zu erforschen, die Ergebnisse seiner Studien zu publizieren und wenn möglich auch über den Kreis der Fachwissenschaftler hinaus verständlich darzustellen. Ob tatsächlich durch die Literatur das Plattdeutsche gerettet werden kann, ist meines Erachtens fraglich. Es widerspricht geradezu der sprachlichen Realität. Und wie lange wird es überhaupt noch plattdeutsche Dichter geben, wenn die Sprache von denen, die sie noch beherrschen, nicht an die folgende Generation weitergegeben wird? Das, was bei mir und meinen Altersgenossen in der Kleinstadt Lingen vor über 50 Jahren der Fall war, ist heute ja längst auch auf dem Lande Realität ge­worden.

Dieser Aufsatz stammt aus dem Buch “Wat, de kann Platt”, herausgegeben von Theo Mönch – Tegeder und Bernd Robben, Emsbüren 1998, Seite 255/256

 

Professor Dr. Hans Taubken, 1943 in Lingen geboren, war hauptberuflich bis zu seiner Pensionierung (2008) 35 Jahre in der Kommission für Mundart- und Namenforschung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe tätig, seit 1990 als Geschäftsführer der Kommission.

Seine ehrenamtliche Mitarbeit in der Augustin Wibbelt-Gesellschaft sowohl als Redakteur des Jahrbuches und auch als Bearbeiter der neuen Wibbelt-Edition  haben ihn in weiten Kreisen auch außerhalb seiner wissenschaftlichen Arbeit bekannt gemacht. 

Er ist 2015 verstorben.