Anita Gödiker

 

Schlüsselerlebnisse

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Bi us in Huse prot wie platt! Das war gegen Ende der 50er Jahre so, und das ist auch heute noch so – dank un­serer Mutter. Bis zum Schulalter kannte ich tatsächlich nur die plattdeutsche Mundart, was sich in unter­schiedlicher Weise und in verschiedenen Lebensab­schnitten auswirken sollte…

So begab sich meine erste „große Reise” kurz vor mei­ner Einschulung von Westerloh nach Holte-Lastrup – di­rekt ins Krankenhaus zur Leistenbruchoperation, die ich mir weniger schlimm vorstellte als den Umstand, daß mich dort bestimmt „kieneine versteiht”. Ich sprach doch kein Wort hochdeutsch. Gut ausstaffiert mit dem auswendig gelernten Satz „Mir ist schlecht” – für alle Fälle – landete ich in einer Welt, die mir dann durchaus sprachlich sympathisch war, denn dort sprach man beides. Diese kleine Episode nahm mir zunächst den Respekt vor den „Hochdeutschen”, was sich in der Schu­le sofort positiv auswirkte. Vor allem genoß ich hin und wieder den hilfreichen Gleichklang der plattdeutschen Worte mit meinen zu lernenden Englischvokabeln. Ansonsten war selbstverständlich Plattdeutsch verpönt. Dieses subjektive Gefühl, durch Plattdeutschsprechen in eine Schublade der „bitken wat Blöden” zu geraten, sollte mich noch sehr lange begleiten. So vermied ich es denn tunlichst, mit dieser Mundart auch nur im geringsten in Verbindung gebracht zu werden. Außerhalb der Reichweite meiner Mutter gelang das auch…

…aber da waren ihre Anrufe. Selbstredend in Plattdeutsch gehalten. Ihr gegenüber wollte ich nicht arrogant wirken, und so glitt ich regelmäßig in einen halb-platt­halb-deutsch-Mischmasch in Flüsterton ab. Das beeindruckte sie überhaupt nicht. Immer bemüht, solche Telefongespräche möglichst rasch zu beenden, konnte ich es aber nicht immer verhindern, daß unfreiwillige Mithörer meiner „Schande” ge­wahr wurden. Ein Mitglied der Freilichtbühne wurde 1979 zu einem solchen un­freiwilligen Zuhörer. Er kam unverzüglich, nachdem der Hörer krachend auf die Gabel niedersauste, auf mich zu und fragte mich in feinstem kölsche Hochdütsch, ob ich noch mehr von der plattdeutschen Sprache zusammenbrächte. Das war der Beginn einer Wende nicht nur in meinem Leben, sondern auch in meinem Ver­halten und in meinem Empfinden gegenüber meiner plattdeutschen „Herkunft”.

Quasi über Nacht wurde ich Mitglied der Spielschar und spielte bis zu meinem Umzug 1986 nach Bremen nicht nur, aber vorzugsweise in den plattdeutschen Stücken mit. Das war eine wunderbare und wichtige Zeit in meinem Leben, für die ich sehr dankbar bin. Weit weg war die jugendliche Verdrängung der Frage, war‑

um denn eigentlich das Plattdeutsche vermeintlich so negativ ist. Sehr nahe war nach und nach die Auseinandersetzung mit der Herkunft, der Kultur, dem Witz und auch der Wichtigkeit dieser Mundart. Es war ein wahres Vergnügen, plötzlich voller Selbstbewußtsein und Souveränität zu sagen: „Ja, ich beherrsche die platt­deutsche Sprache, und ich freue mich darüber”. Vielleicht lag es auch ein wenig daran, daß immer weniger Kinder Plattdeutsch lernten und sprachen, es bestenfalls noch verstanden. Diese Entwicklung der hochdeutschen Kommunikation zwi­schen Eltern und Kindern bescherte meinen Ohren hin und wieder Auswüchse ganz besonderer Art…

Eine Mutter versucht, ihr Kind an den Mittagstisch zu bekommen. „Rolf, kommst du bitte zum Essen?” Es interessiert Rolf nicht. „Rolf, kumms du?” Rolf rührt sich nicht. „Rolf, känns du nich hörn, kumms du zum Essen?” Rolf ist unbeeindruckt. „Rolf, zum letzen Mal, kommst du her?” Rolf kennt keine Gnade – und Mutter auch nicht: „Rolf, du Blickshund du Dübel, wenn ick di tau packen kriege, kriss erst de Mors full”. Rolf mußte lachen – und ich auch. Diese lustigen Erlebnisse sollten sich später noch häufen. In der Großstadt…

In Bremen vermuteten die Kolleginnen und Kollegen nun wirklich keinen Platt­deutschen unter sich. Mein „Coming out”, wie das ja heute wohl heißt, verur­sachte wieder einmal meine Mutter – per Telefon natürlich. Plattdeutsch in Rein­kultur mit Lachsalven als Einlage verzauberte am frühen Montagmorgen mein Büro, das ich mit fünf Männern – jawohl! – teilte. Die Herren Kollegen wußten bis dahin nichts von meiner Sprachgewandtheit. Fünf Augenpaare richteten sich lang­sam auf mich, die Gesichtszüge entglitten ebenso wie die Kugelschreiber den Hän­den. Der Kollege zu meiner Rechten fand als erster die Sprache wieder „Liehe Kol­legin, Sie hätten ruhig sagen können, daß Sie außerirdisch sprechen”. Damit war der Tag endgültig gerettet. Voller Stolz erzählte ich von der Gabe, noch Plattdeutsch sprechen zu können, von dem Genuß, diese ja mittlerweile fast alte „Tradition” noch zu können. Sie wundern sich sicher nicht, wenn ich Ihnen, liebe Leser, jetzt sage, daß meine Kollegen die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich zu meiner „Herkunft” bekannte, mit Respekt anerkannten. Sie fanden mich kein bißchen blöd und meine Haltung gut.

Nun kommt ja bekanntermaßen seit elf Jahren ein neues Volk in meine Runde. Die Berliner. Hier finden nun meine Befürchtungen von damals, als Kleinkind auf dem Weg nach Holte-Lastrup, ihre Bestätigung. Meine plattdeutschen Dönekes zu ge­gebener Zeit in lustiger Runde verstehen nun wirklich nicht alle. „Wat is ‘n det für ne Spraache, wa, is det holländisch oder von Skandinavien irjentwo, oder wo komm ‘se eijentlich her, Frau Jödiker?” Nun, nicht alle vermuten mitten in Berlin eine heimatverbundene und plattdeutsch sprechende Emsländerin. Zu meiner jüngsten Begebenheit — im Herzen Berlins…

…wo ich ja im Juni 1997 das EMSLAND HAUS BERLIN eröffnet habe. Pünktlich wie bestellt machte sich ein großer LKW mit Büromöbeln eines namhaften Herstellers aus dem Ruhrgebiet nach Berlin auf. Dank meiner guten Anfahrtbeschreibung hatte der Fahrer das unvermeidliche Baustellengewirr des Potsdamer Platzes gut im Griff und brachte Möbel wie drei Monteure unbeschadet zum CHECK­POINT CHARLIE – allerdings erst gegen Abend. Nachdem der Wagen schnell ent­laden war, begann die eigentliche Arbeit. Ermüdungserscheinungen trat man mit reichlich Kaffee entgegen. Plötzlich vernahm ich vertraute Töne. Alle drei sprachen Plattdeutsch und kamen aus Gronau. Das hatte ich nicht erwartet. Mit einem Grin­sen mischte ich mich in das Gespräch ein – in Platt natürlich. Das hatten sie nicht erwartet. Was dann kam, war beispiellos. Bis tief in die Nacht wurde geschraubt und montiert. Mit einer Kiste Bier in der Mitte, dem Gesang von „Maries Bohnen­pott”, Dönekes und Lachen wollten sie alles tun – „för dät emsländske Wicht mid den in Berlin, de so gaud plätt proten känn”. So wurde selbst der Start des EMS-LAND HAUSES BERLIN zu einer Begegnung mit der plattdeutschen Vergangen­heit – nein, Gegenwart.

Es bedarf schon lange keiner großen Erlebnisse mehr, die meine tiefe Verbunden­heit zur plattdeutschen Sprache stärken müßten. Sie hat mich Zeit meines Lebens begleitet. Wie, mit welchen Auswirkungen und mit welchem Wandel läßt sich, glaube ich, aus den kurz beschriebenen (Schlüssel-)Erlebnissen, erfühlen. Auch wenn ich mehrfach von „Mundart” gesprochen habe, ist Plattdeutsch eher eine ei­gene Sprache. Die Tendenz, daß immer weniger Menschen diese Sprache lernen und können, stimmt mich sehr traurig, weil meines Erachtens ein hoher kulturel­ler Wert im wahrsten Sinne des Wortes „ausstirbt”. Ich halte es für wichtig und er­strebenswert, diese Sprache weiter lebendig zu halten. Denn über die Sprache fin­det eine Identifizierung statt. Was wäre ein Volk ohne Sprache? Die Möglichkeiten, persönliche und auch soziale Entwicklungsstufen durch Sprachen zu forcieren, müssen besser genutzt werden. Damit meine ich durchaus auch Fremdsprachen. Denn über die Sprache als erstes Mittel des Ausdruckes entsteht Kommunikation. Und Kommunikation ist in der heutigen Zeit, in der Wertschätzung und Wichtig­keiten an Bedeutung verloren haben, ein notwendiges Instrument für Wachstum.

Auch wenn ich nicht ständig die Gelegenheit habe, platt zu sprechen und mit mei­nen beiden Brüdern aus mittlerweile jahrelanger Gewohnheit deutsch spreche, ist es mir ein ganz besonderer Wert, daß ich es noch kann. Eine jedoch läßt sich nicht abbringen — meine Mutter. Selbst auf meinen „neimödsken” Anrufbeantworter spricht sie platt, so daß wir beide voller Überzeugung sagen können…

…bi us in Huse prot wi platt!