Helena Ubbenjans

Dörfliches Leben ­plattdeutsches Leben

Hier in den Dörfern des alten Hümmling wurde und wird überwiegend plattdeutsch gesprochen. In meinem Elternhaus, wo ich mit acht Geschwistern aufgewach­sen bin, war Plattdeutsch unsere alltägliche Umgangs­sprache. Auch in den Familien unserer Verwandtschaft, die über den ganzen Hümmling reichte, wurde immer plattdeutsch gesprochen.

Als Kindern im Vorschulalter war uns aber die hoch­deutsche Sprache nicht fremd, weil in der Familie die täglichen Gebete auf Hochdeutsch gesprochen wurden. Unsere Eltern und auch die älteren Geschwister sangen mit uns Kinderlieder auf Hochdeutsch. In der Schu­le wurde nur das Hochdeutsche angewandt. In den Pausen verfielen die Kinder dann ohne Ausnahme in ihr heimisches Platt.

An den Schulen wurde die plattdeutsche Sprache von den Lehrkräften ganz un­terschiedlich bewertet. Die Kinder am Mariengymnasium in Papenburg durften auch in den Pausen auf dem Schulhof kein Plattdeutsch sprechen, wohingegen ei­ne junge Lehrerin aus Sögel am Gymnasium ganz angetan meinte: „Ihre Kinder sprechen ja zwei Sprachen!” So verschieden sind die Bewertungen und die Ein­stellungen zu unserer Ursprache.

Zur Zeit meiner Eltern – mein Vater war im Jahr 1870 geboren, meine Mutter 1875 – war es auch schon so, daß in der Kirche und in der Schule hochdeutsch geredet und geschrieben wurde. Mein Vater hat immer erzählt, daß er mitgespielt habe im Theater vom Heiligen Franz von Assisi, und auch im Gesangverein habe er mitge­sungen.

Es war genauso wie heute, nur gab es kein Fernsehen und kein Radio. Es wurde unter Nachbarn, Verwandten und Bekannten viel mehr erzählt, und man besuch­te sich mehr als heute. Dann wurde immer plattdeutsch gesprochen. Die alten Bräuche: Dätt Neijohr offwinnen, dätt Dreikönigssingen, dätt Palmbessen utbrin-gen, dei Tunschere of dei Wärpelraut bringen, gehören zur uralten Hümmlinger Kultur. Man müßte noch schreiben über Geburt, Hochzeit, Kindtaufe und das En­de des Lebens. Bei all diesen Anlässen war Nachbarhilfe angesagt.

Heutzutage wird kein Kind auf dem Schulhof plattdeutsch sprechen, weil viele jun­ge Eltern die plattdeutsche Sprache nicht mehr beherrschen und weil sie bei eini­gen als rückständig angesehen wird. In meiner Umgebung, ob es nun Kinder oder Familienfeiern auf dem Lande, um das zu erleben. An dieser Stelle sei ein Wort zu den plattdeutschen Lesewettbewerben erlaubt: Kein noch so guter Lesewettbe­werb kann die wenn auch nur in homöopathischen Dosen verabreichten platt­deutschen Äußerungen eines methodisch geschickt agierenden Lehrers ersetzen; im Unterricht wird Plattdeutsch erlebt, im Lesewettbewerb viel zu oft ohne Ver­innerlichung nachgeahmt.

In meinem heutigen Leben bereitet es mir jedes Mal Vergnügen, mit plattdeutsch sprechenden Menschen zusammenzukommen. Der Kontakt zu Nachbarn, Hand­werkern und anderen läßt sich, wenn das Wort erlaubt ist, viel gemütlicher an, man fällt nicht mit der Tür ins Haus, erst kommt ein „Prötken över`t Weer”: „Wi mött sao nödig Regen hebben…!” Danach wird dann das gewünschte Anliegen vorgebracht. Plattdeutsch zu sprechen hat immer auch etwas mit „Zeit haben” zu tun. Vielleicht gehört das Prötken auch in den immerwährenden Rhythmus von Arbeit und Pause.

Die soziale Bedeutung des gemeinsamen Plattdeutsch ist seit dem letzten Krieg nicht mehr gegeben. Die erheblich gewachsene Bevölkerung bietet einen sprach­lichen Flickenteppich, von dem man nicht weiß, wie er sich weiterhin gestalten wird, zumal Medien und Werbung als nicht willkommene Sprachlehrer einen im­mer größeren Einfluß erhalten. Die gegenwärtige kulturelle Bedeutung des Platt­deutschen sehe ich darin, daß es eine der wichtigsten Ausdrucksformen bietet, um altes emsländisches Brauchtum zu beschreiben, das von seiner damals verwende­ten Sprache nicht zu trennen ist. Desgleichen bedarf es auch des überlieferten Plattdeutsch, um frühere menschliche Schicksale in dieser Landschaft zu beschrei­ben, die immer etwas mit Sprache zu tun hatten.