Schwester Maria Monika

Ein Schlüssel zum Du

Plattdeutsch ist meine Muttersprache, damit bin ich auf­gewachsen und groß geworden. Ja, bis zu meiner Ein­schulung war „Hochdeutsch” für mich fast eine Fremd­sprache. Konfrontiert wurde ich damit vor allem, wenn mein Onkel aus Billerbeck, der Bruder meiner Mutter, mit seiner Frau die Herbstferien in Dörpen verlebte und wir Kinder mit ihm durch die Felder und Wälder der näheren Umgebung streifen durften, um Brombeeren zu pflücken. Da meine Tante in Deutsch-Krone (West­preußen) geboren und aufgewachsen war, verstand sie unsere Umgangssprache nicht. Mein Onkel mußte des­halb alles, was wir erzählten und fragten, ins Hoch­deutsche übertragen – und das war für uns Kinder sehr unangenehm.

ternhaus fand ich wenig Verständnis für meine Situation, zumal mein Vater eine höhere Schulbildung für Mädchen für völlig überflüssig hielt. Unterstützung er­hielt ich jedoch von meiner Mutter, mit der ich nach Feierabend alle Sorgen be­sprechen konnte. Leider bekam ich nicht den Vorschlag, den ich vor einigen Wo­chen in einem plattdeutschen Lesebuch fand: Jannsken, laot di nich verdummen, ick dien Vader segg di dat, laot de Stadtlüe hochdütsk proaten, use Maudersproak bliff Platt!”

Da ich 16 Jahre in meiner Heimat Papenburg, wo ich 1944 an der Aufbauschule für Jungen die Reifeprüfung abgelegt hatte, als Ordensschwester Latein, katholische Religion und Geschichte/Gemeinschaftskunde unterrichtete, ergaben sich an der Marienschule für mich viele gute Begegnungen mit der plattdeutschen Sprache. Gerne denke ich an die Sprechtage zurück, wenn die Eltern der Schülerinnen ihre Sorgen und Anliegen in plattdeutscher Sprache vortrugen, weil sie mich von Dör-pen her kannten. Sehr bewegt hat mich einmal der Besuch des Großvaters einer Schülerin, die mit dem Fach Latein nicht zurechtkam. Der alte Mann war 17 Kilo­meter ganz mit dem Fahrrad gekommen, um seiner Enkelin zu helfen, damit sie weiterhin in ihrer Klassengemeinschaft bleiben konnte.

Als ich im Jahre 1932 in einer zweiklassigen Volksschule eingeschult wurde, hat­te ich keine Schwierigkeit wegen des heimischen Dialektes, da ja alle Kinder des Dorfes zu Hause plattdeutsch sprachen und der Lehrer des ersten Schuljahres gut mit dieser Situation fertig wurde. Biblische Geschichten las er zuerst in Hoch­deutsch vor und erzählte sie dann in Plattdeutsch.

Erst auf der Höheren Schule – von 1938 bis 1939 durfte ich die Mädchenaufbau-schule in Coesfeld besuchen – wurden mir die Probleme, die sich aus dem Umgang mit der plattdeutschen Sprache ergaben, bewußt. Weil es in der plattdeutschen Sprache keine Differenzierung der verschiedenen Fälle gibt, fehlte mir das Sprach­gefühl für die Anwendung des dritten und vierten Falls im Deutschen. So schrieb ich in einer Klassenarbeit den Satz: „Daran habe ich mir allmählich gewöhnt.” Mei­ne Tante in Billerbeck – von dort fuhr ich täglich mit der Bahn nach Coesfeld – war entsetzt über den schweren Grammatikfehler. Sie konnte mir aber nicht erklären, wie ich solche Fehler in Zukunft,vermeiden könnte. „Das habe ich einfach im Ge­fühl”, meinte sie und gab mir den Rat, beim Lesen besonders auf die Grammatik zu achten und nie mehr im Dialekt zu sprechen.

In der städtischen Umgebung fiel mir das nicht schwer, aber als ich nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges wieder nach Dörpen kam, wurde mir mein Vorsatz sehr übel genommen und gemäß dem Lied von Knut Kiesewetter kommentiert: „Meinee, he kann kien Plattdütsch mehr, un he versteiht us nich!” Von den Kin­dern der Nachbarschaft wurde ich mit Spott übersät und aus der Spielgemeinschaft ausgeschlossen. Oft mußte ich den Spruch hören: „Sie hat sich das Hochdeutsch-sprazen so angewöhnt, sie kann es gar nicht mehr lazen!” Auch in meinem Elternhaus fand ich wenig Verständnis für meine Situation, zumal mein Vater eine höhere Schulbildung für Mädchen für völlig überflüssig hielt. Unterstützung er­hielt ich jedoch von meiner Mutter, mit der ich nach Feierabend alle Sorgen be­sprechen konnte. Leider bekam ich nicht den Vorschlag, den ich vor einigen Wo­chen in einem plattdeutschen Lesebuch fand: Jannsken, laot di nich verdummen, ick dien Vader segg di dat, laot de Stadtlüe hochdütsk proaten, use Maudersproak bliff Platt!”

Da ich 16 Jahre in meiner Heimat Papenburg, wo ich 1944 an der Aufbauschule für Jungen die Reifeprüfung abgelegt hatte, als Ordensschwester Latein, katholische Religion und Geschichte/Gemeinschaftskunde unterrichtete, ergaben sich an der Marienschule für mich viele gute Begegnungen mit der plattdeutschen Sprache. Gerne denke ich an die Sprechtage zurück, wenn die Eltern der Schülerinnen ihre Sorgen und Anliegen in plattdeutscher Sprache vortrugen, weil sie mich von Dör-pen her kannten. Sehr bewegt hat mich einmal der Besuch des Großvaters einer Schülerin, die mit dem Fach Latein nicht zurechtkam. Der alte Mann war 17 Kilo­meter ganz mit dem Fahrrad gekommen, um seiner Enkelin zu helfen, damit sie weiterhin in ihrer Klassengemeinschaft bleiben konnte.

Als ich ihm erzählte, wie sehr ich mir als Schülerin immer gewünscht hatte, daß meine Eltern nur ein einziges Mal zum Elternsprechtag nach Papenburg kämen, aber mein Vater überhaupt kein Interesse für die schulischen Leistungen seiner Tochter hatte, erstrahlten seine Augen. Nur im Dialekt vermochte er seinen Ge­fühlen Ausdruck zu verleihen. Wir überlegten dann gemeinsam, wie er trotz aller sprachlichen Barrieren durch die Kontrolle der Hausaufgaben und das Abfragen der lateinischen Vokabeln helfen konnte.

Ermutigung und Bestätigung brauchten in diesen Jahren auch manche Schülerin­nen vom Lande, die im Deutschunterricht Schwierigkeiten hatten, weil sie zu Hau­se nur Dialekt sprachen. Sobald die Deutschlehrerin erfuhr, daß sich die Freun­dinnen auch in der Schule in ihrer Umgangssprache unterhielten, wurde sie sehr ärgerlich. Diesen jungen Mädchen konnte es schon ein Trost sein, wenn ich auf meine eigenen Erfahrungen hinwies und erklärte, daß ich früher in der Schule sehr viel durch das Vorlesen guter Klassenaufsätze und durch intensive Beschäftigung mit guter Lektüre für das Fach Deutsch gelernt hätte. Immer wieder konnte ich bei den schriftlichen und mündlichen Reifeprüfungen am Mariengymnasium feststel­len, welche guten Leistungen auch Schülerinnen vom Lande erbrachten.

Während meiner beruflichen Tätigkeit am Franziskusgymnasium in Lingen konn­te ich keine Erfahrungen im Umgang mit der plattdeutschen Sprache sammeln. Deshalb möchte ich jetzt noch von einer bereichernden Erfahrung berichten, die ich in dieser Zeit an der ländlichen Fachschule für Hauswirtschaft in Gut Hange machte, wo ich in drei Klassen den Religionsunterricht übernommen hatte. Von den Klassensprecherinnen wurde ich jeweils zum Elternnachmittag eingeladen, der einmal im Jahr mit großem Arbeitsaufwand von den Schülerinnen gestaltet wurde. Besonders beeindruckt war ich von den plattdeutschen Darbietungen einer Unterklasse. Die Begrüßung und Organisation des Nachmittags lag in den Händen einer Bauerntochter aus Wietmarschen, die mit viel Humor und Begeisterung ihre Aufgabe meisterte, denn es durfte nur plattdeutsch gesprochen werden.

Die Erinnerung an diesen gelungenen Elternnachmittag hat mich ermutigt, später auch in Thuine einen plattdeutschen Nachmittag als Rekreation für den Schwe­sternkonvent St. Josef anzuregen. Dieser löste sowohl bei den alten Schwestern als auch bei den geladenen Gästen aus dem Mutterhaus, aus Schwagstorf und bei den Ferienschwestern im Haus St. Agnes große Begeisterung aus. Selbst Pater Sigisbert, der Hausgeistliche, der zunächst betonte hatte, daß er keinen Dialekt sprechen könne, meinte zum Schluß, daß er alles verstanden habe, was vorgetragen wurde. Bei den schauspielerischen Leistungen der Oberin von St. Josef war das durchaus möglich. Sie sorgte durch ihre fröhliche Begrüßung im Hümmlinger Platt gleich am Anfang für eine lockere Atmosphäre. Als sie dann noch große Teile des Romans „Land unner Gottes Thron” von der Dichterin Maria Mönch-Tegeder auswendig vortrug, kannte der Beifall keine Grenzen, und die Begeisterung wuchs bei jedem plattdeutschen Lied, das gesungen wurde. Besonders die einzelnen Strophen vom „Hümmelsken Bur” und von „Pastor sine Kauh” fanden großen Anklang, und alle sangen das Schlußlied nach der Melodie „Großer Gott, wir loben dich” kräftig mit:

Herrgott, groot is dine Macht,
Herr, wi willt di immer priesen.
Du kanns us bi Dag un Nacht
Ganz alleen den Weg bloos wiesen.
Mag de ganze Welt vergoan,
diene Macht, de bliw bestoan.

Im Rückblick auf meine Erfahrungen mit der plattdeutschen Sprache wurde mir wieder klar, wie sehr diese zur Bildung des Lebens beitragen kann und wie sehr die heimatliche Mundart ein Schlüssel zum Du ist. Die plattdeutsche Sprache ist heimatgebunden, ursprünglich, lebendig und humorvoll. Man behält sie länger im Gedächtnis, und sie kann auch Heilung bringen, wenn Menschen sich ganz ein­sam fühlen. Das wurde mir an einem Vorgang in der Hedon-Klinik bei Lingen deut­lich. Ein schwerverletzter Landwirt vom Hümmling wurde hier eingeliefert und verhielt sich so unglücklich, daß er in die Nervenheilanstalt nach Osnabrück ab­geschoben werden sollte. Erst als die Frauenbeauftragte aus Lathen ihn besuchte, weil sie von den Angehörigen dringend um Hilfe gebeten worden war, und mit ihm plattdeutsch sprach, wurde er plötzlich lebendig und erzählte aus seinem Le­ben. Mit Hilfe der Nachbarn sorgte die Frauenbeauftragte dafür, daß er in der He-don-Klinik bleiben konnte.

Wie wertvoll der heimatliche Dialekt für viele Menschen ist, wurde mir auch bei verschiedenen Klassentreffen mit ehemaligen Abiturientinnen deutlich, die über ihre Bemühungen mit der plattdeutschen Sprache in Arbeitsgemeinschaften berichteten. Eine gute Bekannte, die als landwirtschaftliche Lehrerin aus Schlesien in das Emsland kam, lernte hier die plattdeutsche Sprache richtig lieben. Sie erzählte mir, daß sie 1949 aus der Emszeitung die Artikel von Lagemann „Hosenbernd un Gerd Bliede” solange studiert und immer wieder gelesen hätte, bis sie diese richtig weitergeben konnte.

Da zur Thuiner Ordensgemeinschaft der Franziskanerinnen vom Hl. Märtyrer Ge­org Schwestern aus allen Gegenden Deutschlands gehören (mit den Provinzen Holland und Amerika und den Missionsgebieten Indonesien, Brasilien, Japan und Tansania), kann die Förderung und Pflege der heimatlichen Mundart nur behutsam und im kleinen Kreis geschehen. Bei meinem Ordenseintritt 1958 war es sogar noch verboten, im Dialekt zu sprechen. Das Gemeinschaftsleben sollte nicht ge­stört werden für diejenigen, die nicht mit der plattdeutschen Sprache aufgewach­sen waren. Aber mit den Angehörigen darf selbstverständlich immer in der hei­matlichen Mundart gesprochen werden.