Hermann Wallmann

Einfluß

Lange habe ich mich einen Emskopp geschimpft und war heimatlos. Ich bin im Emsland geboren, aber erst seit kurzem. Auf dem Gymnasium habe ich mich im­mer vor dem ersten Schultag gefürchtet. Damals began­nen die Schuljahre nach den Osterferien, und der Klas­senlehrer mußte die Familienverhältnisse ins Klassen­buch eintragen. Jedes Frühjahr hatte ich einen neuen Bruder oder eine neue Schwester anzugeben. Brüllen­des Gelächter, die einstürzende Brücke. Ich weiß noch, wie ich mich einmal geschämt habe, als meine Eltern mit meinem Zwillingsbruder und mir mit dem Zug von Lingen nach Rheine, wo mein Zwillingsbruder und ich das Gegenlicht der Welt entdeckt haben, zum Zoo ge­fahren sind, nach Bentlage. Neben uns, auf der anderen Seite des Ganges, saßen Leute, und meine Eltern spra­chen platt miteinander. Mit uns sprachen sie immer hochdeutsch.

Später hat mir dann Köln gefallen. Weil das eine Stadt und ein Strom war. Und noch später Passau, obwohl das dann drei Ströme waren. Und Paris, obwohl die Sei­ne kein Strom war und ich sie überhaupt nicht gesehen habe. Und dann wieder der Rhein, als ich ein Wochen­ende in Königswinter war; kann auch Rüdesheim gewesen sein. Eine wundermil­de Kollegin von mir war in Brasilien, Amazonas.

Ach ja: Mein Vater hat meinen Zwillingsbruder und meinen jüngeren Bruder und mich mal mit nach Bremen genommen: die Weser. Und einmal sind meine Frau und ich mit meinen plattdeutschen Schwiegereltern nach Hamburg gefahren: die Elbe. Genau, und als ich noch bei den Pionieren war, habe ich den Fährenführer-schein gemacht und auf der Donau, gegen die lehmige Strömung, Übersetzen geübt; Ingolstadt, Kloster Weltenburg, Donaudurchbruch.

Ich weiß noch, hinter dem Haus des ehemaligen Chefs meines Vaters machte der Dorfbach für unsere undichten Zigarrenkistenfrachter einen Umweg, mitten durch die Urwälder aus wildem Rhabarber. Weiter westlich floß die Aa, auf der mein Zwillingsbruder und ich einmal im April gekentert sind, beim Paddeln. Dann, noch weiter westlich, kam der Dortmund-Ems-Kanal. Wenn wir ihn entlanggingen, mußten wir am wasserabgewandten Außenrand des Leinpfades gehen; wir haben das auch dann getan, wenn meine Mutter nicht dabei war.

Noch weiter westlich kam die Ems mit ihren flachen Ufern. Wolkenfladen trieben auf dem Wasser, und wir konnten uns nicht vorstellen, wie tief es war. Noch wei­ter westlich, was wir aber nicht wußten, kam der Atlantik. An einer Stelle unserer Sonntagsspaziergänge stießen Ems, Kanal und Aa zusammen. (So ähnlich wie in Passau.) Und sie tun es heute noch.

Heute bin ich ein Emskopp. Es fällt mir leicht, das zuzugeben. Und ich kann darüb­er singen und sagen, daß meine Schulkameraden meine Eltern kinderreich gelacht haben. Wie lange habe ich die Ems verleugnet! Nicht aber die Weser, die Elbe, den Rhein, den Ganges – wie komm ich auf den Ganges? -, den Amazonas. (Ist der At­lantik überhaupt ein Strom? Oder nur der Golf?) Ich habe die Ems, wo sie mir ver­traut war, lange nicht mehr gesehen. Ich weiß, daß sie noch immer die flachen U­fer hat und den hohen milchblauen Himmel. An einigen Stellen ist das Wasser warm von den Kernkraftwerken, i immer mit ju Atom, hat meine Mutter immer gesagt, links und rechts schwären die Bleihütten und Wochenendhäuser; Laub­werk wie Tarnnetze.

Was ich an der Ems habe, habe ich woanders gelernt. Zum Beispiel in Köln. Der Fluß: die Schöne und das Biest: die Stadt. Die Weser, die Elbe, der Rhein, die Do­nau, der Ganges, der Amazonas, der Atlantik haben meine Ems, als wäre sie ein Herz, zum Überlaufen gebracht. Heute bin ich ein Emskopp, und das hat nichts mit dem Emsland zu tun. Nein, doch.

(Für unser Pappen)