Der Wert des Plattdeutschen
In einem Dorf wie Clusorth-Bramhar war es selbstverständlich, daß plattdeutsch gesprochen wurde. Daher ist es nicht verwunderlich, daß auch meine ersten sprachlichen Gehversuche in plattdeutscher Sprache stattfanden. In meinem Elternhaus und im ganzen Dorf wurde mit einer derartigen Selbstverständlichkeit plattdeutsch gesprochen, daß man sich durchaus vorstellen kann, daß die wenigen Menschen, die der plattdeutschen Sprache nicht mächtig waren, sich doch gelegentlich arg ausgegrenzt fühlten.
Es handelte sich meistens um Flüchtlingsfamilien, die aber um der besseren Integration willen sich sehr bemühten, ebenfalls plattdeutsch zu sprechen. Nicht selten haben wir über diese ersten Gehversuche in plattdeutscher Sprache durch unsere Zugezogenen gewitzelt. Daß diese Menschen ihre Heimat verloren hatten, oft außer ihrem eigenen Dialekt und der noch sehr frischen Erinnerung an die Heimat, aus der sie vertrieben waren, nichts mitgebracht hatten und sich jetzt in einer doch sehr abgeschlossenen neuen Umgebung integrieren mußten, wurde von uns Kindern natürlich nicht berücksichtigt.
Bei der begrenzten Mobilität in den fünfziger Jahren kann man sich durchaus fragen, wie denn die hochdeutsche Sprache ins Dorf kam. Der im Vergleich zur heutigen Zeit doch sehr abgeschlossene Lebensraum unserer Dörfer war sicher eine Ursache für die große Verbreitung des Plattdeutschen. Dennoch gab es natürlich vielfältige Berührungspunkte mit der hochdeutschen Sprache.
Als Kinder kamen wir durch Besuche bei Verwandten im benachbarten Lingen fast spielerisch an neue Sprachkenntnisse. Unsere Eltern sprachen zwar mit den Verwandten plattdeutsch, deren Kinder mit uns aber keineswegs. Schließlich wurde in deren Elternhäusern kein Plattdeutsch gesprochen. Nicht selten mußten wir jetzt den leichten Spott der Stadtkinder einstecken.
Über diese Kontakte hinaus legten auch die Eltern großen Wert auf ausreichende hochdeutsche Sprachkenntnisse, gab es doch damals ausgerechnet in Clusorth-Bramhar Lehrerin und Lehrer, die zu der kleinen Gruppe der nicht Plattdeutschen gehörten. An Verständigungsschwierigkeiten kann ich mich allerdings nicht erinnern. Höchstens daran, daß gelegentlich einige Antworten ganz spontan auf Plattdeutsch gegeben wurden. Wir sind mit der Zweisprachigkeit ganz gut zurecht gekommen.
Plattdeutsche Sprachkenntnisse erleichterten auch später sehr oft den Zugang zu vielen Menschen, die ebenfalls Plattdeutsch als Umgangssprache in ihrem Lebensbereich pflegten. Im beruflichen und privaten Alltag war Plattdeutsch für mich niemals eine Belastung, sondern eindeutig eine Bereicherung. Hier gab es durchaus regionale Unterschiede. Während in den Städten Nordhorn, Meppen und Papenburg plattdeutsch häufig gesprochen wurde, war dies gerade in Lingen nicht in dem Umfang der Fall.
Auch wenn es gelegentlich „Städtkers” gab, die glaubten, mit der plattdeutschen Sprache sei auch selbstverständlich eine gewisse Weltfremdheit verbunden, so ist diese Beurteilung der plattdeutsch sprechenden Menschen sicherlich recht oberflächlich und auch falsch. Dennoch ist nicht zu bestreiten, daß mit zunehmender Mobilität in unseren Dörfern die Zahl der plattdeutsch Sprechenden nachgelassen hat. Das hat allerdings nicht zwangsläufig mit der Weltoffenheit oder Weltfremdheit der Menschen zu tun, für die Plattdeutsch ein wichtiges Kulturgut ist. Für mich, der Plattdeutsch als seine Muttersprache betrachtet, war es noch immer ein Gefühl von heimischer Umgebung, wenn ich im Kreise Plattdeutscher war. Dies hat sich bis heute, wo ich beruflich doch häufig in Hannover bin, nicht geändert.
Es mag Menschen geben, die sich in hochdeutscher Sprache sehr viel differenzierter ausdrücken können, als es ihnen im Plattdeutschen möglich erscheint. Wer allerdings über ein richtiges Verstehen der plattdeutschen Sprache auch in der Lage ist, „plattdeutsch” zu denken, wird vieles sehr viel charmanter und treffender, trotzdem aber kurz und bündig, in Plattdeutsch ausdrücken können, wofür er in der hochdeutschen Sprache lange Erklärungen braucht. Insofern fühlt sich manch plattdeutsch Denkender sehr unwohl, wenn er seine Gedanken genauso treffend hochdeutsch formulieren soll.
Anläßlich der Landtagsdebatte im Mai 1998 über die Sendezeitverlegung für die Fernsehsendung ,Falk up Platt” nannte Landwirtschaftsminister Funke dafür folgendes Beispiel: „Wenn der Vater oder die Mutter zu ihrem kleinen Jungen sagen: ,Na du kleen Schietbilder, dann übersetzen Sie das mal so, daß auf Hochdeutsch das Richtige dabei herauskommt.” Es gibt unzählige Beispiele. Ein plattdeutsch Denkender neigt natürlich zu kurzen und prägnanten Beispielen. In der hochdeutschen Sprache formuliert er daher auch sehr gern kurz und prägnant. Der Gefahr einer nicht ausreichenden Differenzierung ist er allerdings dabei immer ausgesetzt.
In einem Zeitalter, in dem uns die Welt offensteht, in dem wir mit den schnellen Verkehrsmitteln innerhalb der 24 Stunden eines Tages in jeden Winkel der Erde kommen können, in dem es in Europa immer mehr zu einem friedlichen Miteinander auch vieler osteuropäischer Länder unter dem Dach der Europäischen Union kommt, frage ich mich immer mehr, wie wir dieses Kulturgut plattdeutsche Sprache durch einen aktiven Sprachgebrauch unseren Kindern vermitteln können. Nun hat der plattdeutsche Sprachgebrauch auch in unseren Dörfern nachgelassen.
Wenn allerdings eine Kultur, und darin besonders die Muttersprache, nicht verkümmern soll, muß sie gepflegt werden. Die Sprache muß sich durch den täglichen Sprachgebrauch entwickeln. Die Pflege unseres Brauchtums – auch der Sprache – in unseren Heimatvereinen ist wichtig, aber zu wenig.
Als Kind hatte ich die ersten Berührungspunkte mit der hochdeutschen Sprache zum Beispiel durch Radiosendungen. Heute sollten wir mit unserem Plattdeutsch über Rundfunk- und Fernsehsendungen, aber auch durch plattdeutsches Theater in unseren hochdeutschen Alltag hineinwirken, so wie damals die hochdeutsche Sprache in unser tägliches Plattdeutsch hineinwirkte.
Mein Landtagskollege aus Ostfriesland, Pastor Bookmeyer, hat anläßlich der schon zitierten Landtagsdebatte folgendes ausgeführt: „Was Plattdeutsch für Menschen bedeutet, die um den Wert dieser Sprache wissen, macht folgendes Gedicht deutlich, das in einem Buch aus Amerika steht. Da denken Menschen an die Sprache ihrer Groß- und Urgroßeltern, die aus Not aus unserem Land herausgegangen sind, aber an ihrer Muttersprache festgehalten haben. Dies sollte uns ein Beispiel sein.”
Das Gedicht vors Friedrich Freudenthal lautet:
Modersproak
Plattdütsk Sproak, mien Modersproak
Du leevste mie van alle Sproaken,
Eenfach van Luut un week van Klang.
In Freud so froh, in Leed so bang,
Mien Weegenleed, mien Stervgesang,
Wenn eens dat Hart mi brocken!
Plattdütsk Sproak, oll Sassensproak,
Se willt di ut de Welt verdrieven,
doch loat ör geern, dat is bloos Tand ‑
Wie Lüü van Elv- un Weserkant,
In Marsch un Moor un Heideland
Sünd plattdütsch boorn, willt plattdütsch blieven!
Soweit Pastor Bookmeyer bei der Landtagsdebatte.
Ich wünsche mir, daß dieses kleine Gedicht zu ein wenig Nachdenklichkeit führt. Ich wünsche mir schließlich auch, daß dieses Buch bei den Lesern zu ein wenig Nachdenklichkeit und Freude am Plattdeutschen führt, und ich wünsche mir, daß wir uns alle gemeinsam um unsere plattdeutsche Sprache bemühen. Oft ist es ja so, daß man den Wert einer Sache erst erkennt, wenn man sie verloren hat. Mit der Pflege der plattdeutschen Sprache darf es uns so nicht ergehen.