Friedel Witte

Heimat auf der Zunge

Ein deutsches Sprichwort lautet: „Das beste Deutsch ist, was von Herzen kommt”. Mit welcher Sprache – wenn nicht mit der Muttersprache – verbindet, versteht und fühlt ein Mensch mehr? Für viele Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Nordhorn ist das Plattdeutsch im­mer noch die Muttersprache, und im Alltag von Nord­horn ist diese Sprache heute noch stets gegenwärtig. Durch meine Familie – meine Eltern und Großeltern sprachen plattdeutsch – ist mir diese Sprache seit meiner Geburt vertraut.

Später lernte ich bewußt, vor allem aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit bei der „Lebenshilfe”, sie auch zu sprechen. Viele der dort arbeitenden Behinderten spre­chen kein Hochdeutsch, da sie keine allgemeinbildenden Schulen besucht haben und von ihrer Familie plattdeutsch gelernt haben. Indem ich diese Sprache mit ih­nen teilen konnte, fühlten sie sich nicht isoliert, sondern angenommen und ver­standen. Über die plattdeutsche Sprache fand ich den Zugang zu ihnen.

Auch bei meiner Tätigkeit als Bürgermeister habe ich oft Gelegenheit, plattdeutsch zu sprechen. Bei Geburtstagsbesuchen älterer Bürgerinnen und Bürger ist es die Regel, daß plattdeutsch gesprochen wird. Auch auf den circa 400 landwirtschaft­lich geprägten Betrieben in Nordhorn wird überwiegend plattdeutsch gesprochen. Dabei bemerke ich immer wieder, daß durch diese gemeinsame Sprache eine ganz besondere vertraute Atmosphäre entsteht. Hemmungen – gerade älteren Menschen – werden dadurch genommen, sie fühlen sich als Gesprächspartner ver­standen, akzeptiert und gleichberechtigt.

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Barrieren durch eine Sprache, die verbin­det, überwunden werden können. Noch so geschliffene Formulierungen überzeu­gen oft nicht so, wie ein Wort der plattdeutschen Sprache, da man sich damit so­fort auf eine Wellenlänge begibt. Man bringt damit zum Ausdruck, daß man nicht „um den heißen Brei herumredet”, sondern auf den Punkt kommt. Man versteckt sich nicht hinter Schachtelsätzen, vagen Formulierungen und abstrakten Redens­arten, welche die Wahrheit nicht vertiefen, sondern umgehen. Im Plattdeutschen kann man sich nicht an einer direkten Antwort vorbeischwindeln. Sie ist eine of­fene und ehrliche Sprache und schafft Vertrauen.

Weitere Vorteile bringt die plattdeutsche Sprache im Zusammenleben mit unseren Nachbargemeinden in den Niederlanden. Durch die sehr artverwandten Sprachen Plattdeutsch und Niederländisch ist es für die meisten plattsprechenden Grafschafter problemlos möglich, zumindest Niederländisch zu verstehen. Ich bin da­von überzeugt, daß dies wesentlich zu dem überaus guten Verhältnis der grenz­überschreitenden Gemeinden beiträgt und die Kommunikation zwischen ihnen fördert.

Plattdeutsch ist eine lebendige Sprache, die sich nicht einfach Wort für Wort ins Hochdeutsche übersetzen läßt. Man kann sie nicht nur nach ihren Wörtern, son­dern muß sie nach dem Sinngehalt ihrer Worte und Ausdrücke umformen. Denn wenn man mit der Muttersprache Plattdeutsch aufgewachsen ist, lebt und denkt man plattdeutsch und übersetzt diese Gedanken ins Hochdeutsche. Daher verlie­ren Übersetzungen plattdeutscher Redewendungen ins Hochdeutsche oft völlig ihren Sinn. Für viele Menschen ist das Hochdeutsche zwar ein Mittel der Ver­ständigung, nicht aber die eigentliche Sprache, in der sie leben, fühlen und denken.

Um so tragischer ist es daher, daß dieses wichtige Kulturerbe unserer Region im­mer mehr verlorengeht. Die plattdeutsche Sprache wird von vielen als nicht voll­wertige Sprache, als nicht gesellschaftsfähig abgetan. Schlimmer noch ist, daß die­jenigen, die sich des Plattdeutschen als erster Sprache bedienen, häufig belächelt werden. Heute gibt es kaum noch Kinder, die mit plattdeutschen Sprachkenntnis­sen in die Schule kommen. Allenfalls verstehen diese Kinder die plattdeutsche Sprache noch; sprechen können sie sie nicht mehr.

Ganz anders ist das bei den Bayern oder Schwaben. Sie empfinden ihre Mutter­sprache – ihren Dialekt – nicht als Hindernis, sondern identifizieren sich damit. War­um also kann das Nebeneinander von Hochdeutsch und Plattdeutsch nicht beste­hen bleiben, genau wie das Nebeneinander von zum Beispiel Schwäbisch oder Bayrisch einerseits und der Hochsprache andererseits? Plattdeutsch gehört nicht zum Bereich des Primitiven, des Kulturlosen. Es ist eine wunderschöne, klangvol­le Sprache mit großartigen Ausdrucksmöglichkeiten.

Unsere Aufgabe ist es, das Bewußtsein und den Wert dieser wertvollen Kultur ge­rade bei der jungen Generation zu stärken. Daher engagiere ich mich seit langem dafür, daß an den Nordhorner Schulen auch plattdeutscher Unterricht angeboten wird. Jeder, der von seiner Einstellung her das Plattdeutsche für minderwertig hält und sich der Sprache bewußt nicht bedient, weil er meint, daß sich dies für „bes­sere”, „feinere” Leute nicht ziemt, sollte bedenken, daß er sich damit vielfach den Zugang zum Herzen, den die Heimatsprache ermöglicht, versperrt. Wer auf die Sprache seiner Heimat verzichtet, verzichtet auf seine Identität. Wir müssen unse­re Muttersprache lieben, verteidigen und vor allem sprechen, denn die Heimat hat man nicht nur unter den Füßen, sondern auch auf der Zunge.