Dr. Jonas Goldschmidt wettert 1845 gegen das Plattdeutsche

Der aus Oldenburg stammende jüdische Arzt und Schriftsteller Dr. Jonas Goldschmidt (1806 bis 1900) erhob sich am 21. 12. 1845 in einem Vortrag mit dem Titel

Ueber das Plattdeutsche, als ein großes Hemmniß jeder Bildung

gegen die Verwendung der plattdeutschen Sprache im Alltag der Menschen. Aufgrund seiner Karriere als Militärarzt genoss er im Raum Oldenburg ein besonderes Ansehen.

Vor dem Hintergrund notwendiger Schulreformen sprach er sich für das Zurückdrängen der plattdeutschen Sprache aus. In seiner Einleitung geht er noch schonend mit ihr um:

Die meisten von Ihnen, m(eine). H(erren)., sind gleich mir in plattdeutscher Welt groß geworden. Plattdeutsch waren die ersten Laute, die wir hörten, Plattdeutsch war die Sprache unsrer Kindheit, unsrer Jugend, und Plattdeutsch reden wir noch jetzt gar oft, wenn wir vertraulich, gemüthlich mit unsern Jugendfreunden verkehren. Gleich mir, sind die meisten von Ihnen mit inniger Liebe der Sprache der schönsten Zeit unsres Lebens zugethan — sie eignet sich auch gar zu gut zum vertraulichen, innigem Verkehre;

Doch dann schwenkt er um: …und doch, m(meine). H(erren)., müssen wir wünschen, daß sich ihr Gebiet täglich mindre, daß das Plattdeutsche allmälig aufhöre zu leben. Denn es hat kein wahres Leben mehr!

 Und so begründet er seine Einstellung, die er mit den sprachlichen Veränderungen seit Luthers Bibelübersetzung beschreibt:

…das Hochdeutsche wurde die Schriftsprache aller gebildeten Männer, das Plattdeutsche galt nur noch im täglichen Verkehre. Es hörte auf Schriftsprache zu sein! — und die Sprache, die nicht Schriftsprache, nicht Sprache der Bildung, des geschichtlichen Fortschritts, der politischen, religiösen, wissenschaftlichen Bewegung ist, ist einem See vergleichbar, der, da ihm der Quellenzufluß versiegt oder abgeleitet ist, zum Sumpf und Moder wird.

 Dr. Goldschmidt bezog sich dabei auf Ludolf Wienbarg und dessen Schrift: Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres beantwortet. (Hamburg, Hoffmann u. Campe 1834, S. 9 u. 12)

Dort ist zu lesen: Die plattdeutsche Sprache ist dem Verstand der Zeit längst zu enge geworden; ihr Wachsthum hat bereits mit dem sechszehnten Jahrhundert aufgehört; sie kann die geistigen und materiellen Fortschritte der Civilisation nicht fassen, nicht wiedergeben, sie hat seit dem sechszehnten Jahrhundert nichts gelernt, sie hat sich mit keinem einzigen Ausdrucke der neuen Geschichte bereichert, sie hat nicht einmal ein Wort für Bildung, nicht einmal ein Wort für Verfassung, und daher verurtheilt sie den größten Theil der Volksmasse in Norddeutschland, dem sie jetzt noch tägliches Organ ist, zu einem Zustande der Unmündigkeit, Rohheit und Ideenlosigkeit, der von dem Zustande der Gebildeten auf die grellste und empörendste Weise absticht.

Jeder Unterricht, alle Bildungsversuche werden an dem unglückseligen Verhältnisse gar wenig ändern, so lange das Plattdeutsche die Muttersprache bleibt.

Jonas Goldschmidt begründet seine Antihaltung zum Plattdeutschen durch seine eigenen Erfahrungen als Militärarzt: Viele Landleute lesen so wenig, daß sie im Laufe des Lebens das Lesen gänzlich verlernen. Alle Bursche von zwanzig Jahren können in unserm Lande, da sie bei dem bestehenden Schulzwange in ihren Kinderjahren es gut gelernt haben, noch ziemlich lesen, sie verstehn auch noch, wenn’s sehr leichte Sachen sind, und nicht allzulange Perioden, zum großen Theile, was sie lesen. Zehn Jahre später da sieht’s anders aus; dann haben viele das Lesen schon wieder verschwitzt. —

Ich hatte vor einiger Zeit einige hundert Leute von ungefähr dreißig Jahren ärztlich zu untersuchen; um ihr Auge zu prüfen, ließ ich sie sämmtlich lesen; aber die wenigsten konnten es noch fertig; viele mußten buchstabiren, wenn irgend ein ungewöhnliches oder langes Wort ihnen in den Weg kam. Ich bin fest überzeugt, die einmal in der Jugend erworbene Fertigkeit im Lesen hätten sie nicht so bald verloren, wenn das Gedruckte ihre Muttersprache wäre.