Dr. Franz Bölsker-Schlicht

Mit einem gewissen Kulturstolz

In meiner Eigenschaft als Hochschuldozent am Institut für Geschichte und historische Landesforschung an der Universität in Vechta bin ich fast in jedem Jahr an ei­nem Austauschprogramm mit Hochschulen in Te-xas/USA beteiligt. Zumindest stelle ich den in Vechta weilenden Studenten und Kollegen aus Amerika, die selbst überwiegend deutscher Abstammung sind und über einige deutsche Sprachkenntnisse verfügen, in ei­nem Vortrag einige Hauptaspekte der Sozial- und Kul­turgeschichte Nordwestdeutschlands vor. Dabei lasse ich es mir nicht nehmen, meinen Zuhörern auch die sprachgeschichtliche Entwicklung des deutschen Nor­dens zu erläutern.

Zwar haben die texanischen Gäste, die sich in der Regel gründlich auf ihren Auf­enthalt in Deutschland vorbereitet haben, zuvor schon gehört oder gelesen, daß auf dem Lande vielfach noch heute ein vom Schriftdeutschen deutlich verschiede­ner „Dialekt”, das sogenannte Plattdeutsch, gesprochen wird, aber großes Erstau­nen löst dann – und das nicht nur bei den Gästen, sondern auch bei anwesenden hochdeutschen Kollegen und Studenten – die Information aus, daß das Nieder­deutsche vor Jahrhunderten nicht nur in ganz Norddeutschland Amts- und Schrift­sprache, sondern auch die – nach dem Hochdeutschen, aber weit vor dem Engli­schen – zweitwichtigste germanische Sprache überhaupt war und daß das Engli­sche beziehungsweise das Alt-Angelsächsische vor eineinhalb Jahrtausenden aus derselben altsächsischen Wurzel hervorgegangen ist wie das Niederdeutsche. Ei­ne Art von Solidarisierungseffekt löst dann bei meinen englischsprachigen Zuhö­rern mein persönliches Bekenntnis aus, daß auch ich das Hochdeutsche erst in der Schule als meine erste Fremdsprache erlernt habe.

In der Tat habe ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr nur das Niederdeutsche ge­sprochen und verstanden. Seitdem lebe ich in einer Situation der Zweisprachigkeit: Niederdeutsch blieb die Sprache des familiären, privaten Bereichs und, als ich spä­ter als Fahrschüler das Gymnasium in Meppen besuchte, die Sprache meiner en­geren Heimat Rütenbrock. Hochdeutsch dagegen war die Sprache, der ich mich in der Öffentlichkeit, das heißt im Unterricht, in den Geschäften, im kirchlichen Raum und nicht zuletzt in allen schriftlichen Belangen, zu bedienen hatte.

Hochdeutsch war zudem, seit ich das Gymnasium in Meppen besuchte, auch die ausschließliche Sprache des Pausenhofes, während in der Volksschule der Ge­brauch des Hochdeutschen ausschließlich auf den eigentlichen Unterricht beschränkt geblieben war und sich die „private” Kommunikation mit den Mit­schülern ganz selbstverständlich auf Plattdeutsch abgespielt hatte. Daß dieses auf dem Gymnasium nicht mehr der Fall war, sondern daß das Hochdeutsche nun erstmals in meinem Leben einen Teil meiner „privaten” Sphäre, nämlich den Kon­takt zu meinen Mitschülern, beherrschte, habe ich persönlich als weitaus größe­ren Bruch empfunden als einige Jahre zuvor die Notwendigkeit, das Hochdeutsche als Unterrichtssprache erlernen zu müssen.

In dem Maße, wie die privaten Kontakte mit Gleichaltrigen in meinem Heimatort, so vor allem mit früheren Mitschülern aus der Volksschule, allmählich abnahmen, reduzierte sich in den folgenden Jahren für mich der Bereich des Niederdeutschen immer mehr auf die Kommunikation im Elternhaus sowie innerhalb der Ver­wandtschaft und Nachbarschaft, während ich in meiner Jugendzeit nach und nach in weitere hochdeutsche Lebensbereiche hineinwuchs. Diese Tendenz verstärkte sich verständlicherweise noch, als nach der Schulzeit die Bindungen an Elternhaus und Heimatort lockerer wurden.

Nach langen Jahren des allmählichen Bedeutungsverlustes der niederdeutschen Sprache in meiner eigenen „Sprachgeschichte” begegnete ich schließlich im Rah­men meiner beruflichen Tätigkeit erstmals der historischen Kultursprache Nieder­deutsch. Meine Muttersprache, die in meinem eigenen Leben immer mehr auf den Bereich des Privaten und Familiären beschränkt worden war und in den Augen vieler „Hochdeutscher” als bäurisch und primitiv abgetan wurde, nun als die offi­zielle Sprache der Hanse, ja als die einst unumstrittene Schrift- und Amtssprache . des gesamten norddeutschen Raumes zwischen Niederrhein und Weichsel, ja selbst der Baltendeutschen wiederentdecken zu dürfen, erfüllt mich mit einer spä­ten Genugtuung, ja sogar mit einem gewissen Kulturstolz. Die niederdeutsche Sprache, so möchte ich abschließend diesem Kulturstolz Ausdruck geben, ist eben nicht nur das sprachliche Gewand dörflich-ländlichen Brauchtums und eines herz­haften bäuerlichen Humors, sondern uraltes kulturelles Erbe, das es, auch wenn die Sprache immer weniger gesprochen wird, ebenso zu bewahren gilt wie ande­re altehrwürdige Kultursprachen.