Mit einem gewissen Kulturstolz
In meiner Eigenschaft als Hochschuldozent am Institut für Geschichte und historische Landesforschung an der Universität in Vechta bin ich fast in jedem Jahr an einem Austauschprogramm mit Hochschulen in Te-xas/USA beteiligt. Zumindest stelle ich den in Vechta weilenden Studenten und Kollegen aus Amerika, die selbst überwiegend deutscher Abstammung sind und über einige deutsche Sprachkenntnisse verfügen, in einem Vortrag einige Hauptaspekte der Sozial- und Kulturgeschichte Nordwestdeutschlands vor. Dabei lasse ich es mir nicht nehmen, meinen Zuhörern auch die sprachgeschichtliche Entwicklung des deutschen Nordens zu erläutern.
Zwar haben die texanischen Gäste, die sich in der Regel gründlich auf ihren Aufenthalt in Deutschland vorbereitet haben, zuvor schon gehört oder gelesen, daß auf dem Lande vielfach noch heute ein vom Schriftdeutschen deutlich verschiedener „Dialekt”, das sogenannte Plattdeutsch, gesprochen wird, aber großes Erstaunen löst dann – und das nicht nur bei den Gästen, sondern auch bei anwesenden hochdeutschen Kollegen und Studenten – die Information aus, daß das Niederdeutsche vor Jahrhunderten nicht nur in ganz Norddeutschland Amts- und Schriftsprache, sondern auch die – nach dem Hochdeutschen, aber weit vor dem Englischen – zweitwichtigste germanische Sprache überhaupt war und daß das Englische beziehungsweise das Alt-Angelsächsische vor eineinhalb Jahrtausenden aus derselben altsächsischen Wurzel hervorgegangen ist wie das Niederdeutsche. Eine Art von Solidarisierungseffekt löst dann bei meinen englischsprachigen Zuhörern mein persönliches Bekenntnis aus, daß auch ich das Hochdeutsche erst in der Schule als meine erste Fremdsprache erlernt habe.
In der Tat habe ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr nur das Niederdeutsche gesprochen und verstanden. Seitdem lebe ich in einer Situation der Zweisprachigkeit: Niederdeutsch blieb die Sprache des familiären, privaten Bereichs und, als ich später als Fahrschüler das Gymnasium in Meppen besuchte, die Sprache meiner engeren Heimat Rütenbrock. Hochdeutsch dagegen war die Sprache, der ich mich in der Öffentlichkeit, das heißt im Unterricht, in den Geschäften, im kirchlichen Raum und nicht zuletzt in allen schriftlichen Belangen, zu bedienen hatte.
Hochdeutsch war zudem, seit ich das Gymnasium in Meppen besuchte, auch die ausschließliche Sprache des Pausenhofes, während in der Volksschule der Gebrauch des Hochdeutschen ausschließlich auf den eigentlichen Unterricht beschränkt geblieben war und sich die „private” Kommunikation mit den Mitschülern ganz selbstverständlich auf Plattdeutsch abgespielt hatte. Daß dieses auf dem Gymnasium nicht mehr der Fall war, sondern daß das Hochdeutsche nun erstmals in meinem Leben einen Teil meiner „privaten” Sphäre, nämlich den Kontakt zu meinen Mitschülern, beherrschte, habe ich persönlich als weitaus größeren Bruch empfunden als einige Jahre zuvor die Notwendigkeit, das Hochdeutsche als Unterrichtssprache erlernen zu müssen.
In dem Maße, wie die privaten Kontakte mit Gleichaltrigen in meinem Heimatort, so vor allem mit früheren Mitschülern aus der Volksschule, allmählich abnahmen, reduzierte sich in den folgenden Jahren für mich der Bereich des Niederdeutschen immer mehr auf die Kommunikation im Elternhaus sowie innerhalb der Verwandtschaft und Nachbarschaft, während ich in meiner Jugendzeit nach und nach in weitere hochdeutsche Lebensbereiche hineinwuchs. Diese Tendenz verstärkte sich verständlicherweise noch, als nach der Schulzeit die Bindungen an Elternhaus und Heimatort lockerer wurden.
Nach langen Jahren des allmählichen Bedeutungsverlustes der niederdeutschen Sprache in meiner eigenen „Sprachgeschichte” begegnete ich schließlich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit erstmals der historischen Kultursprache Niederdeutsch. Meine Muttersprache, die in meinem eigenen Leben immer mehr auf den Bereich des Privaten und Familiären beschränkt worden war und in den Augen vieler „Hochdeutscher” als bäurisch und primitiv abgetan wurde, nun als die offizielle Sprache der Hanse, ja als die einst unumstrittene Schrift- und Amtssprache . des gesamten norddeutschen Raumes zwischen Niederrhein und Weichsel, ja selbst der Baltendeutschen wiederentdecken zu dürfen, erfüllt mich mit einer späten Genugtuung, ja sogar mit einem gewissen Kulturstolz. Die niederdeutsche Sprache, so möchte ich abschließend diesem Kulturstolz Ausdruck geben, ist eben nicht nur das sprachliche Gewand dörflich-ländlichen Brauchtums und eines herzhaften bäuerlichen Humors, sondern uraltes kulturelles Erbe, das es, auch wenn die Sprache immer weniger gesprochen wird, ebenso zu bewahren gilt wie andere altehrwürdige Kultursprachen.