Hermann May

Plattdeutsch heißt finden

Mein Alltag ist nicht plattdeutsch, und doch schreibe ich Texte – Poesie und Anekdoten – auch in Plattdeutsch. Warum? Mein Alltag ist nur selten poesievoll und reiht sich nicht nur aus Anekdoten zusammen. Darum!

Ich bin Emsländer, vielmehr Hümmlinger. Meine Eltern sprachen im Alltag plattdeutsch, aber nicht mit mir. Plattdeutsch war immer um mich herum, doch sehr sel­ten direkt auf mich gerichtet. Unbewußt wuchs ich so im Plattdeutschen auf, jedoch nicht mit ihm. Das heißt, ich konnte und kann Plattdeutsch verstehen, jedoch nur leidlich sprechen.

Später – erwachsen vielleicht schon -, als ich zu schreiben begann, mich intensiver mit Sprache, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten auseinandersetzte, dräng­te sich die plattdeutsche Sprache wieder nach vorn, drängte sich ins bewußte Feld.

Ich erinnerte mich da, daß mein Vater sich häufig mit den Unterschieden und Ge­meinsamkeiten der beiden deutschen Sprachen beschäftigt hatte, mir immer wie­der sporadisch an Beispielen aufgezeigt hatte, was das Plattdeutsche gegenüber dem Hochdeutschen auszudrücken vermag oder auch an individuellen Interpreta­tionen bieten kann, die so zum Beispiel dem Sprecher und dem Angesprochenen Schutz bieten können. So werden bekanntlich Schimpfwörter oder Zoten ge­schwächt beziehungsweise weniger aggressiv empfunden, erlauben auf der ande­ren Seite Liebkosungen oder intime Bekenntnisse immer doch noch den Rückzug ins Verschlossene und damit Unverletzbare.

Ich erinnerte mich an den Klang des Plattdeutschen, an diese meist beruhigende Geräuschkulisse um mich herum, wenn die Erwachsenen sich unterhielten, daß die Sprache etwas Festes, Vertrauen Verbreitendes gehabt hatte.

Die Menschen schienen mit ihrer Sprache verwachsen zu sein, schienen eine Ein­heit zu bilden, der Sprache haftete – in meinen Erinnerungen empfand ich es so ­etwas Körperliches an. Diese lautmalerische Sprache wirkte auch sehr viel körper­licher als das Hochdeutsche; das Hümmlinger Platt mit den vielen Vokalen, Lang­vokalen und Diphthongen geht tiefer ein, bewegt sich und die Menschen mehr auf emotionaler Ebene.

Während meines Germanistikstudiums beschäftigte ich mich mit den Werken Reuters und kam auch darüber wieder dazu, Autoren aus meiner Heimat zu lesen.

Dabei haben mich die „Hümmlinger Skizzen” von A. Trautmann sehr beeindruckt. Trautmanns Art zu schreiben war mir einleuchtend, er erzählt und schildert hoch­deutsch, läßt aber seine Protagonisten plattdeutsch sprechen und wirkt auf mich damit echt und überzeugend. Aber auch andere Autoren waren bald interessant für mich, immer wieder fand ich bei der Lektüre Ausdrücke oder Redewendungen, die in ihrer hochdeutschen Übersetzung farblos wirken, unzutreffend sind oder nicht die passende Atmosphäre schaffen.

Plattdeutsch spricht sehr viel eher Verstand und Gefühl an, alle Sinne werden an­gestoßen und schwingen mit.

Ich schreibe neben kleinen Prosastücken in erster Linie lyrische Texte, wobei ich mich bemühe, durch die Worte, über die Wörter sehr dicht zu werden, jedes soll treffend und echt sein. Dabei habe ich festgestellt, daß mich beide Sprachen sehr häufig aus sich heraus ansprechen.

Das sinnliche Wesen der plattdeutschen Sprache bietet sich mir bei Stimmungsly­rik häufiger und unmittelbarer an als die rationale hochdeutsche Sprache.

Was hat zum Beispiel das hochdeutsche „unruhig” dem plattdeutschen „rüüserch” entgegenzuhalten oder das Wort „hinterhältig lachen” dem plattdeutschen „gluumlachern”, wenn die Wahl zwischen „wachsen” und „graien”, zwischen „ei­genartig” und „aorich” oder zwischen „sehnen” und „hüügen” liegt, was gibt es da nachzudenken? Selbst wenn die Verwandtschaft der Wörter offensichtlich und au­genscheinlich ist, wirkt oft der plattdeutsche Ausdruck echter: „fühlen, rufen, ver­gessen” oder „föülen, raupen, vergääten”.

Nun, ich bin kein Linguist, ich gehe bei diesen Überlegungen von meinen Erfah­rungen aus, und es ist müßig, hier mehr Beispiele zu bringen, von denen es im Plattdeutschen übergenug gibt. Wenn ich einen lyrischen Text schreiben will, läuft der Vorgang meistens auch nicht so, daß meine Eindrücke sich in Plattdeutsch ver­festigen, mein Alltag ist nicht plattdeutsch, wie ich anfangs sagte, ich denke nor­malerweise nicht plattdeutsch, nein, der Hergang ist meist anders:

Wenn mich Bilder, Dinge oder Gedanken berührt haben, so daß sie als Text wie­derkommen wollen, warte ich darauf, daß sie die entsprechenden Wörter treffen. Das passiert in der Regel ganz unversehens, ich stolpere über ein Wort, einen Aus­druck, und die Verbindung ist da und schreibt sich dann selbst fort. Das kann auch ganz genau umgekehrt verlaufen, ich finde ein Wort, das mich bewegt, lange Zeit bewegt, und irgendwann findet sich dazu das passende Bild.

Das war zum Beispiel mit dem Begriff ;net stief haebben” (Zeit genug haben) so. Fasziniert hat mich dabei die Sichtweise dieses plattdeutschen Ausdrucks, Zeit wird „steif”, fließt nicht mehr, wird zu etwas Festem, Greifbarem. Lange Zeit spä­ter kam dazu das Bild der langsam fallenden Schneeflocken, die die Welt verschwinden ließen, ein Sinnbild der absoluten Ruhe, selbst das Fallen ist nur schwa­che Bewegung, wird durch das absolute Weiß nicht wirklich registriert, Geräusche sind gar nicht zu vernehmen, Zeit ist zur Ruhe gekommen.

Schließlich wurde daraus der folgende Text:
Schnäien is olle Tiet

Daet Swoojen hollt
de Klock` aen,
haeff Tiet stief.

Tüsken de Flocken
luurt de Drockte,
resset sück.

Auch auf eine weitere Art und Weise entstehen häufig plattdeutsche Lyriktexte. Ich erlebe ein Bild und empfinde, daß dazu unbedingt plattdeutsche Ausdrücke gehören. Ich kann nicht genau sagen warum, aber das Gefühl, daß nur das Platt­deutsche sagen kann, was ich dazu empfinde, ist sehr stark. Also mache ich mich auf die Suche, gehe in den Steinbruch der Wörter und breche mich vorwärts. Wenn ich das erste Wort ausgegraben habe, ist meistens der Schlüssel gefunden, und es geht über Querverweise und Ähnlichkeiten weiter, Wortfamilien und Wortfelder formen dann langsam den Text. So entstand beispielsweise auch mein Text „Pan”. Eine nebelige Flußwiesenlandschaft im Morgengrauen ließ mich spüren, daß Pan auch hier und immer noch lebt. Und dieser Naturgott ließ sich meinem Empfinden nach nur mit der plattdeutschen Sprache festhalten:

Pan

Pan röög’t sück wäär

rett Nääwel

mit de Syrinxflaite upp

reert bucks un jach de

Daoken

kielt wreeit döär Boom un Busk

man sien Geblaere

weeit

van gistern un van tauken Jaoren

Nun, das mag vielleicht genügen, um aufzuzeigen, warum ich trotz meiner viel­leicht beschränkten Beherrschung des Plattdeutschen diese Sprache als lyrische Texte zu formen versuche. Sicher kann man mir den Vorwurf machen, daß ich bei „meinem Leisten” bleiben soll, was man nicht versuchen zu ästhetisieren.

Das Urteil über meine Texte liegt eh’ bei den Lesern, und Bestätigung aus berufe­nem Mund, wie von Herrn Heinrich Book, einem der Autoren des Hümmlinger Wörterbuchs, lassen mich weitermachen. Vielleicht geht man mit Dingen, die man nicht vollkommen beherrscht, auch sorgfältiger um, ich kann es nicht sagen, aber ich werde weiter schreiben. Diese erdige, warme und farbige Sprache hat mich viel zu sehr gepackt, als daß ich von ihr lassen wollte. In meinem Buch „Finntling” habe ich versucht, beide Sprachen nebeneinander wirken zu lassen, jede in ihren Eigenarten „zu Wort kommen” zu lassen. Der Leser wird sich selbst ein Bild ma­chen.

Das Plattdeutsche mit seinen Lautmalereien bringt aber nicht nur von sich aus At­mosphäre mit, es entfaltet diese merkbar beim Vortrag der Texte, zumal ich meine, daß die Qualität des Plattdeutschen erst richtig beim Sprechen und Hören zu er­fahren ist. Das gedruckte plattdeutsche Wort ist leider bei weitem nicht so eingän­gig, zumal es wenige Regionen gibt, die sich auf eine Schreibweise geeinigt haben, wie zum Beispiel die Ostfriesen. Wenn die Texte jedoch vorgelesen werden, pas­siert eben fast immer das, was ich oben versucht habe zu beschreiben, die Men­schen werden von ihr berührt, auch wenn sie es nicht immer verstehen. Darum dienen dieser alten und modernen Sprache Vorlesungen am ehesten, schade, daß es sowenig zu hören gibt in unserer Region.