Fenne Friedrich

Wir würden heute anders entscheiden

Ein Lehrer gibt in einem 1. Schuljahr eine Vertretungs­stunde. Als erstes nimmt er sich das Klassenbuch vor und geht die Namen der Kinder durch. Ihn interessie­ren die Neuzugänge an seiner Schule. Dabei stößt er auf einen Nachnamen mit ungewohnter Schreibweise. „Doerenbos, Jenni, wer ist denn das? Wie spricht man deinen Namen aus?” – Keine Reaktion. Auch auf Nach­frage nicht. Da meldet sich ein Mädchen: „Herr M., die Jenni versteht das nicht. Das ist eine Plattdeutsche!” – So geschehen in einer Schule in Nordhorn im Jahre 1962. Diese kleine Begebenheit vor über 30 Jahren war einmal typisch für die Erfahrungen, die Landkinder bei der Einschulung machten:

Hochdeutsch war für sie die erste Fremdsprache. Allerdings war es schon eher eine Ausnahme, daß ein Kind in Stadtnähe kein Hochdeutsch verstand.

Nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem flachen Lande hatte seit den fünfzi­ger Jahren ein Umdenken bezüglich der Mundart eingesetzt. Zwei Gründe mögen zu diesem Meinungswandel geführt haben: Einmal die Erfahrung, daß man – bis­her nur mit Plattdeutsch aufgewachsen – in der Schule große Nachteile gegenüber „hochdeutschen” Kindern in der Beherrschung der hochdeutschen Sprache erle­ben mußte. Und diese Nachteile sollten den eigenen Kindern erspart bleiben. Der zweite Grund ist wohl eher in einem allgemeinen Stimmungswandel zu suchen: Das Grafschafter Platt, über Jahrhunderte hinweg die Sprache des einfachen Man­nes und des alltäglichen Lebens, war mit einem Mal nicht mehr „fein” genug.

Dieser Umdenkungsprozeß zeigt sich auch in meiner eigenen Biographie. Ich bin 1939 geboren. Meine Eltern kommen beide aus der Grafschaft Bentheim und sind selbstverständlich mit Plattdeutsch aufgewachsen. Sie sprachen auch miteinander plattdeutsch, aber mit uns Kindern hochdeutsch. Da wir auf dem Lande bei Nord­horn wohnten, lernten wir so nebenbei natürlich auch platt sprechen und unter­hielten uns mit anderen Dorfbewohnern selbstverständlich auf Plattdeutsch.

Ich heiratete 1965 nach Uelsen. Mein Mann, dem die Pflege des Grafschafter Platt sehr am Herzen liegt, und ich reden mal hochdeutsch, mal plattdeutsch miteinan­der. Manchmal wechseln wir mitten im Satz mühelos von einer Sprache in die an­dere. So verwachsen sind wir mit beiden Sprachen. Wenn es allerdings um kom­plizierte Sachverhalte geht, geben wir dem Hochdeutschen den Vorzug.

Mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Kindern reden sollten, haben wir uns schwergetan. Wir haben uns für die hochdeutsche Sprache entschieden. Plattdeutsch haben sie zwar auch gelernt, aber es ist mehr eine Übersetzung vom Hochdeutschen ins Plattdeutsche. Heute würden wir eine andere Entscheidung treffen. Wir würden mit ihnen platt sprechen. Das Hochdeutsche würden sie von selbst lernen. Es ist heute – anders als früher – allgegenwärtig durch die Umgebung, durch die Medien.

Nicht nur die Bürger in Stadt und Dorf, sondern auch viele Bauern haben sich in den letzten Jahrzehnten dafür entschieden, mit ihren Kindern hochdeutsch zu sprechen. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich Bauernkinder nur hochdeutsch re­den höre. Die Gefahr, daß der Grafschafter Dialekt verloren geht, besteht durch­aus. Es zeichnet sich aber eine Trendwende ab. So stelle ich mit Erstaunen und Freude fest, daß in manchen Geschäften, Bankinstituten oder auch Krankenhäu­sern Wert darauf gelegt wird, daß – soweit möglich – ihre Mitarbeiter mit den Kun­den beziehungsweise Patienten platt sprechen. Es spricht sich so viel leichter! Und es entsteht sofort Nähe.

Wilhelm Buddenberg aus Nordhorn, gebürtig aus Neuenhaus, ein Mann mit vie­len öffentlichen Ämtern, war ein großer Liebhaber des Grafschafter Platt. Er hat zu der Frage, ob mit Kindern besser hoch- oder plattdeutsch gesprochen werden soll­te, folgenden guten Rat gegeben: „Leewe Lö, wenn unse Platt nich unnergoahn sall, dann mot i all met de kläine Kinner platt proaten. Natürlek motz` se gut hochdütsch leähren, men wenn se ock gut platt proat`, dann proar se eene Sproake meähr. In de Vergangenhäit wodde wal is seggt, dat unse Platt bloß wat föar dum­me Lö was, men dat is nich woahr. lck bin Rektor, Borgemester, Landrat un in’ Landtag wesst un hebbe altied gerne platt proar.” („Liebe Leute, wenn unser Platt nicht untergehen soll, dann müßt ihr schon mit den kleinen Kindern platt spre­chen. Natürlich müssen sie ein gutes Hochdeutsch lernen, aber wenn sie auch gut platt sprechen, dann können sie eine Sprache mehr sprechen. In der Vergangen­heit hieß es, daß unser Platt nur etwas für dumme Leute sei, aber das stimmt nicht. Ich bin Rektor, Bürgermeister, Landrat und Landtagsabgeordneter gewesen, und ich habe immer gern platt gesprochen.”)

Ich wünsche mir, daß wir uns wieder mehr auf den Wert des Plattdeutschen be­sinnen und daß dieser schöne alte Dialekt in der Grafschaft und andernorts wieder mehr zu Ehren kommt.

Aus: Wat de kann Platt? Emsländer und  Grafschafter über ihre Mundart

Hrsg: Theo Mönch-Tegeder/Bernd Robben

Emsbüren 1998   Verlag Mönch & Robben

Seite 62