Theo Mönch – Tegeder: “Nichts drum bei”

 

“Nichts drum bei” —

Hintersinnige Gedanken über die Weisheit in der plattdeutschen Sprache

von Theo Mönch – Tegeder

„Jaja”, pflegte olde Gerdohm zu sagen, wenn er darüber nachsann, warum er in seinem Leben stets den Junggesellenstand der Ehe vorgezogen hatte. — „Jaja, dat is so wat met de Frejerej. Erst flispert se sick in’t Ohr, dat se sick to’t fretten gern häbt. Un en paor Jaaohr later spieet ehr, dat sei nich daone häbt.” — So ist das mit der Liebe: Zuerst flüstern sie sich ins Ohr, dass sie sich zum Fressen gern haben; und später tut es ihnen leid, dass sie es nicht getan haben. Er wollte nicht riskieren, sich an dieser Kost den Magen zu verderben.

Das ist ein wunderschönes Beispiel für emsländische Philosophie. Wer glaubt, dass sich unser Denken nicht von dem im übrigen Deutschland oder gar in anderen Kulturen unterscheidet, der irrt. Natürlich, die Gesetze der Logik gelten auch bei uns. Aber es ist eben nicht alles Logik. Denn jeder Mensch lässt sich neben der Vernunft von seinen Gefühlen leiten, jeder denkt in den Strukturen seiner Sprache. Das sind einerseits unter der Perspektive der Globalisierung die Strukturen der Sprachen, die man beherrscht. Aber mehr noch stehen wir andererseits unter dem prägenden Eindruck der Sprache, in der wir aufgewachsen und erzogen worden sind.

Hier kommt das Plattdeutsche auf eine neue Weise ins Spiel: Zwar geht sein Gebrauch als Umgangssprache deutlich — man kann auch sagen: dramatisch — zurück, aber ins Denken haben sich die Spuren unserer ehemaligen Muttersprache eingeprägt wie Wind und Wasser ins Profil unserer Landschaft. Wir denken plattdeutscher als wir denken! Und das gilt selbst für die Kinder, die die Sprache ihrer Eltern und Voreltern nicht einmal mehr verstehen.

Man braucht nur ein x-beliebiges Gespräch zu verfolgen. „Unser Mama”, „unser Bernd” — eine solche Wir-Bezeichnung für Familienbeziehungen ist typisch für uns. „Meine Mutter, „mein Bruder Bernd” würde man stattdessen in deutschen Landen gemeinhin sagen. Hier drücken sich in unserer Sprache das starke Gemeinschaftsgefühl und der hohe Wert der verwandtschaftlichen Bindung aus, die so charakteristisch sind für unsere nordwestdeutsche Lebensweise und die sich zum Beispiel bis heute deutlich in der besonderen demographischen Entwicklung unseres Landstrichs niederschlagen.

Völlig geläufig ist im Emsland auch die schöne Redewendung: _Da hab nichts drum bei” – eine direkte Ableitung der plattdeutschen Phrase „dor häb nicks Um bi”. Wer sie hört, weiß zuverlässig, da jemanden vor sich zu haben, der im Herzen ein Plattdeutscher geblieben ist – womöglich ohne dass diesem selbst es bewusst ist. Aus gutem Grund wird der Satz eins zu eins in die hochdeutsche Alltagssprache übernommen, denn er ist jeder anderen, grammatisch korrekten Übersetzung überlegen. Ja, er lässt sich in seiner genauen Bedeutung gar nicht treffend übersetzen, die zwischen „das ist mir einerlei”, „das lässt mich kalt” und „das traue ich mir zu” changiert.

Oft genug müssen wir ja mit Bedauern feststellen, dass das Plattdeutsche den  Anforderungen der modernen Kommunikation nicht mehr gewachsen ist; hier haben wir den schönen gegenteiligen Fall – und er ist nicht der einzige. Ähnlich verhält es sich mit Wendungen wie „da kannste nichts von sagen”, die als die höchste Stufe des emsländischen Lobes zu gelten hat – eine Mischung aus „das macht mich sprachlos” und „da gibt es nichts zu meckern”.

Am deutlichsten wird der Unterschied zwischen plattdeutschem und hochdeutschem Denken im Wort “zufrieden”. Wir würden in den großen jährlichen Befragungen wohl kaum regelmäßig in die Skala der glücklichsten und zufriedensten Regionen Deutschlands eingereiht werden ohne unseren plattdeutschen Urgrund. Denn “zufrieden” – „tofree” – ist für uns nicht in erster Linie die Beschreibung eines wohligen Gefühls – ab Note 6 auf einer Glücksskala von eins bis zehn -, sondern schlichtweg ein Urzustand unserer Existenz. Wir sind immer zufrieden – entweder gut oder schlecht. Den typischen Emsländer erkennt man auch daran, dass er das Adjektiv „zufrieden” eigentlich immer durch ein qualitatives Eigenschaftswort ergänzt.

Wenn im Emsland jemand „nicht gut zufrieden” ist, dann will er uns damit entweder sagen, dass er sich in hohem Maß ärgert, oder aber, dass er krank ist. Unbewusst teilt er uns aber zugleich mit, dass er diesem Zustand trotz allem auch noch etwas Gutes, eben Zufriedenstellendes abgewinnen kann. Es tut einem zum Beispiel ja manchmal auch ganz gut, wenn man so richtig wütend sein darf.

Oder es entstehen solche Döönkes wie das von Schulten Oma, die auch „nicht gut zufrieden” war, das heißt, sie fühlte sich krank. Und darum beauftragte sie ihren Enkel Bernd, eine Urinprobe zum Arzt zu bringen. „De sall sick äs dat Water ankieken.” — Manchmal führt ja schon die Diagnose eine Steigerung des Wohlbefindens herbei. Bernd macht sich mit dem Fläschchen auf den Weg, aber trifft seine Freunde beim Fußballspiel und bolzt erst einmal kräftig mit. Und natürlich geht bei einem der unvermeidlichen Zweikämpfe der Anlass seines Ganges zu Bruch. Bernd, ganz schlau, sucht sich aus dem Straßengraben eine neue Flasche; nebenan auf der Weide stehen einige Pferde. Als eines den Schwanz hebt, schleicht er sich an, füllt flugs den Buddel — und ab zum Doktor. Der lässt die Probe von seiner Assistentin im Labor untersuchen und stellt Bernd zur Rede: „Sag einmal, ist das wirklich der Urin von Euer Oma?”, was Bernd mit seinem ehrlichsten Gesicht beteuert. „Dann muss Oma schnellstens ins Krankenhaus”, entgegnet da der Arzt. „Nächste Woche bekommt sie ein Fohlen.” Da sind wir doch gleich gut zufrieden — sogar Oma, wenn sie von diesem Krankheitsbild erfährt.

Auch in den grammatikalischen Unterschieden unserer Sprechweise gegenüber der deutschen Hochsprache können wir Unterschiede des Denkens diagnostizieren. Auf die Frage „Was machst du gerade?’ antwortet man im Emsland zumeist mit „Ich bin am …” — Ich bin am Zaun streichen, er ist am träumen, wir sind am Bier trinken. Laut Dudenregel müsste diese Form im Hochdeutschen verpönt sein, wohingegen im Englischen das „I am …” völlig selbstverständlich ist und sogar als ein wesentlicher Pluspunkt der sprachlichen Ausdrucksweise angesehen wird, denn unterschiedliche Gegenwartsformen können differenziert benannt werden. Hochdeutsch mit plattdeutschem Einschlag bietet genau diesen Vorzug an.

Eine andere — ebenfalls dem Englischen verwandte — Besonderheit ist unsere umgangssprachliche Verwendung des Wortes „gehen” als Bezeichnung der unmittelbar bevorstehenden Zukunft. Hier gibt es — für hochdeutsche Ohren — die kuriosesten Wendungen, die einem Plattdeutschen ohne jedes Stolpern über die Lippen gehen: „Laot us äs en Gang sitten gaohn” — Lass uns mal einen Gang (= eine Weile) sitzen gehen.

Da erleben wir angewandte Relativitätstheorie auf höchstem Niveau: Gleich zweimal wird ein Zustand, den wir hochdeutsch statisch, nämlich als Ruhe begreifen (Weile, sitzen), plattdeutsch zu einem Zustand der Bewegung (Gang, sitten gaohn), was dieser ja, streng philosophisch betrachtet, in der Tat auch ist. Denn alles ist Bewegung, panta rhei.

Manches hat sich von diesem Mehrwert bis heute in unserer alltäglichen emsländischen Umgangssprache konserviert. „Geh schon mal sitzen”, „er geht tot”, „in dem Bett kannst du schön drin liegen gehen”. Und wenn uns Kaiser Franz Beckenbauer mit seinem „Schau mer mal” beglückt, lässt uns das ganz cool, denn wir haben unsere typisch norddeutsche Variante, die zwar nicht so berühmt, aber mindestens ebenso tief schürfend ist: „Gaoh hen un seih to” — Geh hin und sieh zu.

Eine besondere Perle dieses sprachlichen Reichtums ist das Wort „zugange” als Ausdruck eines kontinuierlichen, andauernden Tuns oder Seins — früher im Plattdeutschen eine immer und überall anzutreffende Form, die sehr viel Verschiedenes auszudrücken und noch mehr anzudeuten versteht: Hinnerk was met de Freijerej togange. Eenes Dages was he jüst met siene Hanna up de Kamer togange, äs siene Mama naoh bowen röp: Hinnerk, du muss nu aber met de Arbeet togange. Tja, man nu is dat Wicht met’t Kinnerkriegen togange. Dorüm mörr wi nu drock met de Hochtiet togange. Use Papa nölt all, dat he dann weer metten schwatten Anzug togange mott. Un aobends häbt se’t nett met’t Supen togange. Welch ein wunderbares Wort! Unser emsländisches Sprachbiotop wäre ärmer ohne diese schöne Wendung. Sie gehört dringend auf die Rote Liste der vom Aussterben bedrohten plattdeutschen Ausdrücke! Umso mehr sollten wir uns, genauso wie die Naturschützer über einen seltenen Hirschkäfer, freuen, sooft wir — zum Beispiel samstags im Vorgarten — hören: Ich bin mit dem Rasen zugange.

Die vielen, die im tiefen Innern platt geblieben sind, kann man nur ermuntern, diesen Geist beherzt herauszulassen. Sie verfügen über eine Denk-Kategorie mehr!

Als in geselliger Runde über die Erhöhung der Mehrwertsteuer diskutiert wurde, warf jemand ein: „Dat is doch kien Wunner, dat de Mehrwertstüern immer mehr werd’t. Dörum heet’t se doch so.” Diesen so schlichten wie grundwahren Sachverhalt kann man eben nur so präzise erkennen, wenn man sich seine plattdeutsche Denkungsart bewahrt hat.

Eine sehr wichtige Quelle der emsländischen Philosophie ist die Lebenserfahrung, die nicht durch Hochschulstudium und Theorie, sondern vom Lernen im Alltag gespeist wird. Etwa wenn der Dörpener Kultusminister Bernd Busemann seinen Kritikern, die ihm handwerkliche Fehler bei dem von ihm angeschlagenen Reformtempo vorhalten, entgegenhält: „Wer schnell serviert, lässt schon mal einen Teller fallen.” Das ist zwar nicht plattdeutsch gesprochen, aber plattdeutsch gedacht. Ein Meister dieser Art war Busemanns Vorgänger, Dr. Werner Remmers, von dem noch heute viele Zitate im Umlauf sind, die dies belegen. Etwa, wenn er vor einer großen Rede das Stoßgebet zum Himmel schickte: „Lieber Gott, dieses Mal musst du mir noch helfen. Das nächste Mal werde ich mich dann auch bestimmt selber vorbereiten.”

Noch zieht sich diese Art der Weisheit durch alle Bevölkerungskreise und Schichten. Da gibt es den Bürgermeister, der mit vor Stolz geschwellter Brust, die wohlgefüllten EU-Fördertöpfe im Blick, verkündet: „Wir sind anerkannt arm.” Oder den Pfarrer, der seiner besorgten Gemeinde die geplante Verkleinerung der Kirche mit einem Wortspiel schmackhaft macht: „Ja, ihr habt Recht: Wenn sie alle reingingen, gingen sie nicht alle rein. Aber sie gehen nun mal nicht alle rein. Und darum gehen sie alle rein.“

Es wäre ein nicht wieder gut zu machender Fehler, wenn mit dem allmählichen Schwund der plattdeutschen Sprache nun auch die damit verbundene Denkweise dem Niedergang  anheim fallen würde. In der durch die Flurbereinigung ausgeräumten Landschaft werden mittlerweile im großen Stil Biotope angelegt und Renaturierungsmaßnahmen eingeleitet, um die ursprüngliche Artenvielfalt zurückzugewinnen. Denn es wurde erkannt: Sie ist ein Reichtum und eine Schatzkammer Wir die Zukunft. Nicht anders verhält es sich mit der kulturellen Artenvielfalt unseres Raumes, die sich ganz wesentlich im Sprechen und Denken niederschlägt.

Intensiver als in manch anderen Regionen Norddeutschlands ist in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts im Emsland versucht worden, die plattdeutsche Sprache zurückzudrängen — um nicht das Wort „ausrotten” zu benutzen. Die Emsland-Dichterin Maria Mönch-Tegeder sah die unmittelbare Auswirkung darin, dass viele Menschen weder die eine noch die andere Sprache hinreichend beherrschten. Den Kampf um den Dativ haben viele, die damals Schüler waren, noch in unangenehmer Erinnerung. Einer der Merksätze von damals lautete: „Mir und mich verwechsele ich nicht. Das kommt bei mir nicht vor. Und jedes Mal, wenn du es tust, zieh ich dich ans Ohr.” Einsichtige Eltern und Lehrer — vielleicht waren auch einige resignierte darunter — waren schon damals klug genug, um zu wissen: Wichtiger als „mir” und „mich” ist, dass die Kinder „mein” und „dein” zu unterscheiden lernen.

Maria Mönch-Tegeders Plädoyer hieß damals: „Läwer en reell Platt äs en vergammelt Hochdätsk.” Sie belegte ihre Meinung mit einem kleinen Dialog, dem man anmerkt, dass er den fünfziger Jahren entstammt. Es ist die Unterhaltung zweier Frauen am Tag nach einer Kirmes über ihre Kinder beziehungsweise das Hausmädchen Brigitte:

A:           Aufe Kirmes ist es ja tüchtig zugange gewesen.

B:            Ich bin froh zu, dass das vorbei ist. Man kann ja an die Blagen auch nichts mehr sagen.

A:           Ja, da kannste nicks an tun. Das is ne Lauferei, da is das Ende von weg.

B:            Unser Brigitte wusste da nicks von ab. Die ist auch nicht bei Bokeloh umzugegangen. Die sollte die Kinder im Bett machen und auswaschen. Sogegens musste sie in Hause sein.

A:           Von euer Brigitte will ich auch nichts von gesagt haben. Die ist da auch kein Schuld an.

B:            Och, lass uns der man von schweigen. Das is ja’s Mundlostun nich wert

A:           Has recht! Ich will mir da auch nich mehr über ärgern. Ich habe auch so viel Wehrerei annen Kopf Unser Papa is auf Arbeit und unser Gisela muss noch überlernen.

B:            Dann man zu.

 

Das Stadium des unmöglichen sprachlichen Mischmasch, den die gewaltsamen Zerstörer des Plattdeutschen über viele, viele Jahre angerichtet hatten, ist Geschichte. Hochdeutsch ist unumstrittene, allseits beherrschte und allseits beherrschende  Umgangssprache. Darum gilt es nun, die Weisheit des Plattdeutschen, die sich in Denken und Sprechen niederschlägt, aus dem überlieferten neu zu erschließen, zu  fordern und zu sichern, soweit sie überhaupt noch zu retten ist – ähnlich wie es zum Nutzen von Flora und Fauna in unseren Hase- und Emsauen, unseren Landschafts-und Naturparks, unseren Bauerngärten geschieht.

Es lohnt sich, denn in der hochdeutschen Sprechlandschaft der Emsländer sprießen – oftmals unbemerkt – noch viele wunderschöne plattdeutsche Redewendungen: „Da weiß ich nichts von ab”; „da nicht für”; „das kannst du mecklich”; „bei um nebenbei”; „das bin ich in Schuld”; „wir sind unheimlich drock”… .

Es gibt manche Indizien dafür, dass der Wert des Plattdeutschen als Ort wertvoller Lebenserfahrung und eines herausgehobenen Lebensgefühls wieder im Steigen begriffen ist. Zum Beispiel: Einstmals war Platt eine Arbeits- und Alltagssprache. Von dieser Welt wird sie noch heute getragen, den Handwerkern, den Bauern. den Fabrikarbeitern auf der Meyer-Werft oder bei Krone. Hochdeutsch sprach man, wenn es „fein zugehen” sollte – in der Kirche, im Theater, bei Festansprachen. Genau hier vollzieht sich eine hochinteressante Umkehrung: Jetzt genießt man das Plattdeutsche im Theater, bei Festreden, auch gern einmal beim Gottesdienst. Aus der Umgangssprache scheint eine Erbauungs- und Erholungssprache zu werden. Immerhin: Eine nützliche neue Funktion und damit eine Überlebenschance!

In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes, Band 53, 2007, Seite 283 – 288

Foto: KNA Bonn