Irmgard Lieber

„Kiepkes Boom”

Bei uns zu Hause im Klein-Berßen wurde plattdeutsch gesprochen. Wir konnten zwar hochdeutsch verstehen und sprechen, aber untereinander sprachen wir platt.

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Meine Schwester und ich besuchten nach der Volks­schule das Mädchengymnasium in Meppen, und damit begann unser Problem mit dem Plattdeutschen. Für mich war es selbstverständlich, mich mit meiner Schwester auch in der Schule in unserer Familienspra­che zu unterhalten. Für sie war es aber unerträglich, von mir vor ihren Mitschülerinnen so „platt” angesprochen zu werden. In den Pau­sen nahm sie auf dem Schulhof Reißaus vor mir. Natürlich wurde ihr das mit der Zeit zu bunt, und wie es sich für eine ältere Schwester gehört, entwarf sie eine Stra­tegie.

Mir wurde meine plattdeutsche Strecke genau abgesteckt. Wenn wir morgens das Haus verließen und die große Eiche „Kiepkes Boom” erreicht hatten, war es mit dem Plattdeutschen aus. Es begann für mich die hochdeutsche Zone; den ganzen Vormittag in der Schule: Plattdeutschverbot! Fuhren wir mittags mit dem Bus nach Hause, durfte kein plattdeutsches Wort aus meinem Munde kommen; aber wenn wir „Kiepkes Boom” erreicht hatten, war Plattdeutsch wieder erlaubt. Wir hielten diese Regel genau ein. Ich war nach einer gewissen Zeit so gut erzogen, daß ich so­gar an der Eiche mitten im Satz die Sprache wechselte.

Erfreulich für mich wirkte aber mein kleines Druckmittel bei meiner Schwester. Wenn ich meinen Willen nicht kriegte, drohte ich: „Dann spreche ich eben platt!” Dies verbesserte meistens nachhaltig meine Position.