AlfredMöllers (Bad Essen)

Alfred Möllers

Plattdeutsch im Schulunterricht

Ich bin in Schüttorf geboren und habe in der ältesten Stadt der Grafschaft Bentheim meine Kinder- und Jugendzeit verlebt. Wir wohnten damals in einer Straße mit lauter Ackerbürgerhäusern. Unser Haus war der einzige Neubau in dieser Straße, und ich fand es in den engen Grüppen, die die Ackerbürgerhäuser voneinander trennten, und in den dahinterliegenden Gärten viel spannender als in unserem Neubau, der ein Stück  abseits lag und auf der einen Seite von einem großen Garten und auf der anderen Seite von einem Feld umgeben war.

Zu den Ackerbürgerhäusern gehörten auch die Ställe. Jede Familie hatte wenigstens eine Ziege und ein Schwein. Das Schweineschlachten im Winter war stets ein aufregendes Ereignis. Und wenn Oma Metten und Oma Elskamp sich über den Gartenzaun unterhielten oder wenn die alten Peinerts miteinander sprachen, hörte ich nur Plattdeutsch. Mit mir aber sprach man hochdeutsch; denn meine Familie war ja zugezogen, und an meine Eltern richtete niemand die Erwartung, daß sie plattdeutsch sprechen würden. Gleichwohl kann ich mich daran erinnern, daß bei den Besuchen der Großeltern in Rheine und den damit verbundenen Familienfeiern hin und wieder das münsterländische Platt zu hören war. Es hat mich damals verwundert, daß ich in zwei Sprachwelten lebte und nur die eine, nämlich die hochdeutsche, beherrschte, aber die andere, das Plattdeutsche, bestens verstand.

Erst als Lehramtsstudent in Münster bin ich in eine Situation geraten, plattdeutsch sprechen zu müssen. Unser damaliger Deutschprofessor, Professor Dr. Pielow, hatte eine neue Gedichtmethode erfunden, die sogenannte Antizipationsmethode, und er bat mich, diese im Unterricht zu erproben, um sie dann im nächsten Schritt den Studenten vorzustellen. Für eine Vorführlektion in der Pädagogischen Hochschule schlug er mir ein Gedicht von Augustin Wibbelt vor: zu meiner Überraschung – denn ich kannte Augustin Wibbelt nicht – ein plattdeutsches Gedicht. Professor Pielow nahm ganz selbstverständlich an, daß seine Studenten zur damaligen Zeit – das war im Jahre 1962 – noch der plattdeutschen Sprache mächtig seien. Ich meldete noch leise Zweifel an, aber der Professor konterte selbstverständlich: „Das können Sie schon.” Und so zeigte ich an dem Gedicht „Dat Liäben gaiht ‘nen krummen Patt” den Mitstudenten, was der ProfeAsor ch unter der antizipatorischen Methode vorstellte.

Als ich meine erste Lehrerstelle in Steide im damaligen Kreis Lingen antrat, gewann ich beim Bürgermeister einige Sympathien, weil ich zu dem auf Plattdeutsch geführten Gespräch anläßlich meiner Vorstellung einige wenige plattdeutsche Sätze beisteuern konnte. Während meiner gesamten Junglehrerzeit, die ich in Steide und dann in dem Dorf Leschede verbrachte, lebte ich zwischen Menschen, für die die plattdeutsche Sprache die selbstverständliche Umgangssprache war; mit dem gleichen Selbstverständnis war ich mir sicher, die Schüler die hochdeutsche Sprache lehren und hart daran arbeiten zu müssen, bei ihnen all die Fehler auszumerzen, die ich als Folge des Umstands bewertete, daß die Kinder noch in einem Zweisprachenmilieu aufwuchsen. Nie habe ich während meiner gesamten Lehrerzeit in Steide und Leschede in der Schule je ein Wort plattdeutsch gesprochen.

Zu eben dieser selben Zeit erwuchs aber in mir ein persönliches Interesse an der plattdeutschen Sprache. Ich habe damals begonnen, glattdeutsche Literatur zu kaufen, und ich erinnere mich noch heute, mit welcher Begeisterung ich die kleinen Hefte von Maria Mönch -Tegeder gelesen habe. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, daß aus meinem stillen Interesse geradezu eine aktive Leidenschaft zugunsten der plattdeutschen Sprache erwachsen würde.

Ich mußte erst Schulrat werden, um zu begreifen, daß es zum Mündigsein dazugehört, erkannt zu haben, woher man kommt und aus welcher Vergangenheit heraus das Heute entstehen konnte. Ich habe am Ende der 70er Jahre sehr wohl verstanden, warum in unserer Gesellschaft eine Beschäftigung mit der Tradition einsetzte. Wieviele Kulturdenkmäler sind damals in letzter Minute vor dem Verfall gerettet worden, weil endlich das Gespür und das Erkennen sich eingenistet hatten, nach dem Vergangenen zu fragen und Zeitzeugen als Zeichen für das Vergangene zu erhalten. Ich habe mich damals bewußt entschieden, meinen Beitrag zu leisten, uns als Zeitgenossen an die Sprache unserer Väter und Urväter zu erinnern.

Am Ende der 80er Jahre – seit 1980 bin ich Schulrat im Osnabrücker Land – etablierten sich in der Osnabrücker Region immer fester die plattdeutschen Vorlesewettbewerbe. Ich erinnerte mich an meine eigene Kindheit und an die Tatsache, daß ich nur durch Zuhören gelernt habe, die plattdeutsche Sprache zu verstehen. Ich habe mich dann damals wieder neu in die alten Vorlesungsmanuskripte und in die Literatur hineinvertieft, um mir darüber klar zu werden, daß das bereits aufgebaute Sprachsystem des Menschen bei einer richtigen Grundlegung immer zu einer Übertragungsleistung fähig ist. Das bedeutet, daß es in der Lage ist, eine artverwandte Sprache zu transponieren und zu integrieren.

Ich habe dann ganz systematisch begonnen, einen mehrstufigen Plan zu entwerfen, um durch die Schule einen Beitrag zur Erhaltung der plattdeutschen Sprache zu leisten. Ich hatte damals das Glück, in relativ kurzer Zeit einen interessierten Kreis von Lehrkräften, die die plattdeutsche Sprache noch als Muttersprache erlernt hatten, und von plattdeutschen Autoren um mich sammeln zu können, um mit diesem Gremium didaktische Arbeitshilfen für die Schule zu entwickeln. Innerhalb von 5 Jahren ist es mir mit diesem Arbeitskreis gelungen, vier Lehrbücher für den Osnabrücker Raum zu konzipieren. An erster Stelle stand die Herausgabe einer Sammlung plattdeutscher Texte für die Förderung des plattdeutschen Vorlesewettbewerbes. Diese Textsammlung ist zweistufig aufgebaut worden, einmal für den Grundschulbereich und zum anderen für den Sekundarstufenbereich. In einem zweiten Schritt haben wir ein Lesebuch geschaffen, das Lesebuch, Musikbuch und Sprachbuch zugleich sein sollte, und zwar so abgefaßt, daß es auch das Interesse der Erwachsenen wecken sollte. Daß es uns damals gelungen ist, diese vielfache Zielrichtung in einem Werk zu bündeln, darauf bin ich besonders stolz. Vielleicht sollte aber die Tatsache noch höher bewertet werden, daß es mir gelungen ist, mit diesem Arbeitskreis ein Lesebuch unter dem Titel „Ossenbrügger Platt” herauszugeben. Es ist nicht einfach gewesen, besonders den Mitgliedern des Arbeitskreises, die als plattdeutsche Autoren arbeiteten, die Einsicht abzuverlangen, daß wir bei unseren Kindern nicht ein Bohmter beziehungsweise Bad Essener beziehungsweise Neuenkirchener oder Bad Laerer Platt pflegen und erhalten können – vielmehr, daß wir ein Platt in einer Schreibweise entwickeln müssen, die es zuläßt, dem ortsgebundenen Sprachkundigen die Artikulierung zu ermöglichen, durch die die Platt-Tradition seines Heimatdorfes aufrechterhalten werden kann.

1993 ist das dritte Werk herausgekommen. Es trägt den Titel „Plattdeutsch in der Schule”. Der Untertitel lautet: Arbeitshilfen für einen sinnvollen Gebrauch der plattdeutschen Sprache im Unterricht der Fächer Sachkunde, Deutsch, Musik. Mit diesem Werk verfolge ich ein ehrgeiziges und hochgestecktes Ziel: Ich möchte die Lehrkräfte, die die genannten Unterrichtsfächer unterrichten, befähigen, ganz selbstverständlich an geeigneten Stellen die plattdeutsche Sprache in ihren „nor-malen” Unterricht einzubeziehen. Die erstellten Arbeitshilfen sind deshalb so angelegt worden, daß auch der nicht plattdeutsch sprechende Lehrer sich in die Lage versetzen kann, seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der plattdeutschen Sprachkultur zu leisten. Warum sollen Kinder nicht wissen, daß sie in einem Raum leben, der über Jahrhunderte hinweg bis heute eine eigene Sprachwelt gehabt hat? Warum soll man Kindern nicht die notwendigsten Sprachkenntnisse (und das sind nur wenige) vermitteln, damit sie die historischen und gegenwärtigen Lebensgewohnheiten und -gegebenheiten im Lebensraum des Osnabrücker Landes verstehen lernen können?

Daß jeder Lehrer diese Aufgabe leisten kann, habe ich nicht nur an meinem eigenen Werdegang feststellen können. So waren wir bei der Vorstellung dieser Arbeitshilfen gegenüber der Öffentlichkeit Gast im Unterricht einer Lehrerin, die den zahlreich anwesenden Gästen bewies, daß sie, die die plattdeutsche Sprache nicht beherrschte, in der Lage war, ihren Kindern ein plattdeutsches Gedicht zu vermitteln und sie so interestert zu machen, daß sie dieses auch unbedingt auswendig lernen wollten. Man wird heute ganz selbstverständlich den Anspruch an die einzelne Lehrkraft stellen dürfen, daß es zum Beispiel zu einer sachgerechten Lehre des Sachunterrichts gehört, die Kinder die Sach- und Beziehungswelt in der sprachlichen Ausdrucksweise kennenlernen zu lassen, die die ursprüngliche beziehungsweise die heute noch bezeugte ist. Es wäre zum Beispiel ein Verlust, wenn Kinder, die im Unterricht die Flur- und Straßennamen ihres Ortes kennenlernen, gar nicht mehr Namen, die plattdeutschen Ursprungs sind, als plattdeutsche Na¬men erkennen würden. Ich konnte feststellen, daß man eben dann, wenn man dem Lehrer die notwendigen didaktischen Hilfen bereitstellt, den von ihm ange-forderten kulturlhaltenden Beitrag zurückerstattet bekommt.

Auf die oben genannten Arbeitshilfen bin ich deshalb ausführlicher eingegangen, weil durch diese ein wichtiges Signal gegeben werden soll. Der Schule soll übermittelt werden, daß niemand von ihr die Aufgabe verlangt, dafür sorgen zu müssen, daß sie am Ende der Schulzeit Kinder entläßt, die der plattdeutschen Sprache mächtig sind. Und der plattdeutschen Öffentlichkeit soll verständlich gemacht werden, daß aufgrund der Tatsache, daß die Elternhäuser die plattdeutsche Sprache nicht mehr als Muttersprache vermitteln, wir akzeptieren müssen, daß es zukünftig wohl noch viele Menschen geben wird, die die plattdeutsche Sprache verstehen, aber nur wenige, die sie aktiv sprechen können. Der Schule stelle ich die Aufgabe, ihren Beitrag dazu zu leisten, den Kindern zu einem passiven Sprachverstehen zu verhelfen. Diese Leistung soll sie im wesentlichen innerhalb des ganz normalen Unterrichts erbringen. Über plattdeutsche Arbeitsgemeinschaften kann sie sich um eine Ausweitung dieses Ansinnens bemühen. Dann muß sie in der Weise arbeiten, daß sie die plattdeutsche Sprache wie eine Fremdsprache vermittelt.

Meinen Beitrag darf ich jetzt beschließen mit dem Hinweis auf das vierte Werk, das ich herausgeben konnte: Ein plattdeutsches Wörterbuch und Sprachbuch. Wenn die plattdeutsche Sprache wie eine Fremdsprache gelehrt werden muß, dann gebrauchen die Lehrer kindertypische Sprachsituationen, durch die sie einen Grundwortschatz aufbauen und grundlegende Sprachstrukturen lehren können. Wir haben die Erfahrung machen können, daß es einer Lehrkraft, die Schüler zwei Jahre lang in einer einstündigen Platt-AG unterrichten kann, gelingt, das Sprachverstehen sehr gut zu sichern und die Kinder in die Lage zu versetzen, einfache Sprachsituationen in aktiver Sprechweise zu bewältigen.