Friedrich Kirschner

Advokaten – Platt

Im Herzen des Emslandes auf einem Bauernhof geboren, habe ich erstaunlicherweise erst recht spät Zugang zur plattdeutschen Sprache gefunden. Platt wurde in der Familie fast gar nicht und auf dem elterli­chen Hof, das heißt unter den übrigen Hofbewohnern, nur wenig gesprochen.

Das tägliche Leben wie Einkaufen und Schulbesuch war wegen der Stadtrandlage des Hofes auf die Stadt Meppen ausgerichtet. Kinder und Jugendliche in der Stadt sprachen praktisch überhaupt kein Plattdeutsch. Plattdeutsche Töne drangen daher recht selten an meine Kinderohren. Unbewußt dürfte dieses sogar Bestand­teil des Erziehungskonzepts meiner Eltern gewesen sein. Die Kinder, die mit „Platt” aufwuchsen, sollten nach seinerzeit verbreiteter Auffassung Sprachproble­me in der Schule bekommen, da dort ausschließlich Hochdeutsch gefragt sei. So vergingen die Grundschuljahre mehr oder minder in der Erkenntnis, daß der platt­deutschen Sprache kein hoher Stellenwert beizumessen sei.

Erst in den Folgejahren stellte sich peu a peu für mich die eigentliche Bedeutung des Niederdeutschen heraus. Auf dem Gymnasium fanden sich viele Mitschüler mit ländlicher Abstammung, die sich mit zunehmendem Alter jedenfalls unterein­ander zu ihrer Abstammung bekannten und platt sprachen. Verstehen konnte ich alles; nur wie dumm, wenn man sich am Gespräch nicht so recht beteiligen konn­te. Für die Städter war ich der Bauernsohn, für die Schüler aus dem ländlichen Um­feld eher das Stadtkind.

Dieser Identitätskrise galt es Paroli zu bieten. Circa ab Untertertia nahm ich jede Gelegenheit wahr, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Als mein Lehrer fungierte ein emsländisches Urgestein, ein mit ungemein tiefgehenden Lebens­weisheiten ausgestatteter Hofbewohner, der sich dem Zeitgeschehen als Frührent­ner intensiv widmen konnte und mir das Rüstzeug für mein späteres Plattdeutsch lieferte. Nach dem Mittagessen leistete ich ihm beim Priemen Gesellschaft. Mein Gesprächspartner sägte das Brennholz, und ich hatte alle Mühe damit, dessen plattdeutschen „Ergüsse” richtig zu verarbeiten. So hätte ich hiernach bei stärke­ren Regengüssen befürchten müssen, „dat wi alle versupet”. In dieser Zeit wurde der Grundstein für meine plattdeutsche Anekdotensammlung gelegt, die nicht von hohem Niveau, so doch von bedeutendem Unterhaltungswert ist. Auf jeden Fall hilft mir heute der gelegentliche Rückgriff hierauf bei dem Wunsch, den Eindruck zu vermitteln, ein aktives Mitglied der niederdeutschen Sprachgemeinde gewor­den zu sein.

Als das Interesse am anderen Geschlecht wach wurde, hatten ländliche Tanzver­anstaltungen als Kontrast zum Diskothekeneinerlei gelegentlich auf mich hohe An­ziehungskraft. Ob bei Vennemann in Lehrte oder Cantzen in Groß Hesepe, die Ge­spräche mit den Damen wurden auch schon mal auf Platt geführt und ich von die­sen sehr schnell der fehlenden originären Sprachzugehörigkeit überführt. Der Stel­lenwert des Plattdeutschen wuchs. Ich wollte dabeisein. Ab dieser Zeit habe ich es als noch mißlicher empfunden, ein emsländischer Bauernsohn zu sein, der in ge­wissen Lebenssituationen mit doch eher schlechter Kommunikationsmöglichkeit ausgestattet war. Immer wieder wurde ich nämlich eines unsauberen Platts über­führt.

Dennoch darf ich davon erzählen, während meines ersten Semesters in Berlin ge­meinsam mit zwei emsländischen Studienfreunden in einer Gaststätte vom Thre-senpublikum plattsprechenderweise angetroffen worden zu sein, wobei wir in die­ser Schöneberger Insiderkneipe für waschechte Niederländer gehalten wurden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt glaube ich, den Durchbruch geschafft zu haben. Wir begriffen uns als durch die gemeinsame Sprache miteinander besonders ver­bunden. Die anderen 1hresengäste haben wir dennoch nicht in ihrem Irrglauben belassen.

Mittlerweile hat das Plattdeutsche sowohl in meinem beruflichen Leben als auch in meiner Freizeit einen nicht mehr wegzudenkenden hohen Stellenwert. Es ver­geht kaum ein Tag, an dem nicht zumindest ein paar Sätze platt gesprochen wer­den. Als in mittleren Jahren stehender Rechtsanwalt und Notar findet sich in mei­ner Kanzlei zunehmend Klientel aus dem dörflichen Bereich ein. Gerade bei Bera­tungsgesprächen für letztwillige Verfügungen oder Hofübertragungen erlebe ich es häufig, daß meine Gesprächspartner es dankbar annehmen, sich mit mir platt­deutsch unterhalten zu können. Erst im Platt finden viele Ältere die Möglichkeit, aus sich herauszukommen.

Häufig wendet sich das Gespräch, wenn es vom Hochdeutschen weg in die ver­traute Mundart geht. Man erfährt Dinge, die ansonsten nicht ausgesprochen wür­den. Das Familiengeflecht mit seinen für Außenstehende oft nur schwer zugängli­chen Strukturen läßt sich für den Zuhörer viel besser erschließen. Unterschwellig vorhandenen Begehrlichkeiten von nicht zu bedenkenden Angehörigen oder auch Nachbarn, die sich etwas „ausgerechnet” haben, kann viel besser begegnet wer­den. Der Einblick geht tiefer. Gesprächshürden werden abgebaut. Das im Platt selbstverständliche „Du” findet Eingang in das Gespräch und sorgt für eine größe­re Vertrauensbasis. So ist es nichts Ungewöhnliches, wenn ich von älteren Man­danten geduzt werde, die ich hingegen mit dem „Sie” anspreche.

Als Jäger ist für mich die plattdeutsche Sprache aus meinem Leben gar nicht mehr wegzudenken. Sie ist bei und gerade auch nach der Gesellschaftsjagd das „Salz in der Suppe”. Die Vorträge auf Platt stellen beim Schüsseltreiben einen Hochgenuß für Teilnehmer der Jagdgesellschaft dar. Die Witze unter Männern wirken, auf Platterzählt, fast nie gewöhnlich und wären selbst für Damenohren geeignet, was  bei einer hochdeutschen Ausgestaltung derselben kaum der Fall sein dürfte.

Das Platt stellt für den von Hektik geplagten Zeitgenossen eine Bereicherung dar, auf die Folgegenerationen nicht verzichten sollten. Wünschen wir der plattdeut­schen Sprache ein dauerhaftes Blühen, Wachsen und Gedeihen.