Vorgeschichte
Sprache ist ohne Zweifel das höchste Kulturgut des Menschen. Und da verschwindet eine über Jahrhunderte angestammte Regionalsprache innerhalb weniger Jahrzehnte fast völlig. Deshalb wurde schon im Jahre 1989 eine umfassende Bestandsaufnahme bei allen Kindern des vierten Schuljahres (insgesamt 3185 Mädchen und Jungen) im Landkreis Emsland durchgeführt[1]. Die damaligen Ergebnisse der kombinierten Schüler- und Elternbefragung waren ernüchternd. Da diese Untersuchung mittlerweile mehr als zwanzig Jahre her ist und für eine erneute Befragung nach damaligem Muster die Ressourcen fehlen, bot es sich an, sich in einer Art Kurzbefragung (15 Kernfragen) in den Kollegien der Grundschulen zu erkundigen, wie es gegenwärtig um die plattdeutschen Aktivitäten und Kompetenzen bei Schülern und Lehrern steht. Dabei wurde nun die Grafschaft Bentheim ebenfalls in die anonyme Befragung mit einbezogen. Bei der Durchführung hat sich gezeigt, dass die Ausweitung dieser Untersuchung auf das Bentheimer Land sehr sinnvoll war. Sie ist dort in den Schulen auf stärkeres Interesse und größere Akzeptanz gestoßen als im Landkreis Emsland. 28 von 31 (= 90 Prozent) angeschriebenen Grafschafter Schulen haben geantwortet. Im benachbarten Landkreis Emsland schickten von 42 angeschriebenen Schulen 30 (= 72 Prozent) die ausgefüllten Antwortbögen zurück. Der enorme Rückgang des plattdeutschen Sprachvermögens von Heranwachsenden schon vor zwanzig Jahren mit dem Vergleich der Plattdeutschaktivitäten von heute in einem Großteil der Grundschulen im Arbeitsbereich der Emsländischen Landschaft zeigt unumstößlich: Der aktive Umgang mit dem Plattdeutschen ist in der jüngeren Generation nicht mehr gegeben, da er im Elternhaus offensichtlich (bewusst) nicht vermittelt wird. Umso interessanter wird damit die Frage, welche Rolle die Grundschule von heute als nächste Vermittlungsinstanz spielt.
Anlass und Ziel der Untersuchung im Landkreis Emsland im Jahre 1989/90
Der eigentliche damalige Anlass für die doch sehr aufwändige Untersuchung war ein Besuch im Niederdeutschen Institut im Schnoorviertel in Bremen in den Sommerferien 1987 mit dem Ziel der Sichtung neuen Unterrichtsmaterials für die Plattdeutsch AG in der Schule. Im Gespräch mit dem damaligen Geschäftsführer Dr. Schuppenhauer kam das Gespräch auf die derzeitige Plattdeutschsituation an den Schulen im niederdeutschen Sprachbereich. Dazu holte Dr. Schuppenhauer zwei noch jüngere Untersuchungen von seinem Schreibtisch. Das war zum einen die Untersuchungen von Prof. Dr. Dieter Stellmacher (Lehrinstuhlinhaber Niederdeutsch Universität Göttingen) mit dem Titel „Wer spricht Platt? Zur Lage des Niederdeutschen heute“[2] aus dem Jahre 1987 und zum anderen eine Enquete aus dem Jahre 1982 von Professor Dr. Ludger Kremer von der Reijksuniversität Antwerpen im Landkreis Westmünsterland[3].
Die Bestandsaufnahme von Stellmacher war im Auftrage des Niederdeutschen Institutes im gesamten niederdeutschen Sprachbereich (Kosten: über 300.000 DM) durchgeführt worden. Allerdings mussten dem kundigen Leser in der kurz gefassten Bestandsaufnahme von 1987 deutliche Widersprüche auffallen (siehe Seite…). Diese wurden indirekt bestätigt durch die Lektüre der Umfrageauswertung von Professor Kremer im Landkreis Borken.
So reifte die Idee, durch eine umfassende Befragung aller Schüler und Schülerinnen der 4. Schuljahre im Landkreis Emsland einen aktuellen Forschungsbefund in Nordwestdeutschland vorstellen zu können, der um eine wichtige Untersuchungskomponente ergänzt werden sollte: die aktive Sprachkompetenz.
Dieser Plan gefiel dem damaligen Leiter des Schulaufsichtsamtes Emsland Alfons Lögering und er richtete eine Arbeitsgruppe zu diesem Vorhaben unter seiner Leitung ein. Nahezu zeitgleich begann ein anderer Lehrerarbeitskreis mit der Planung eines plattdeutschen Lesebuches auf Landkreisebene. In den benachbarten Regionen Oldenburg und Osnabrück gab es solche Unterrichtswerke schon und sie erfreuten sich ständig größerer Beliebtheit in den Schulen. Hierbei stellte sich heraus, dass in der Lehrerschaft der Primar- und Sekundarstufe 1 dieses Raumes eine hohe Plattdeutschkompetenz vorhanden war: Nahezu 40 Prozent der Lehrpersonen konnte platt sprechen.
Vorbereitung und Durchführung der Befragung 1989/90
Die Untersuchung wurde nun mit der Unterstützung des Schulaufsichtsamtes des Kreises Emsland durchgeführt[4]. In zwei Vorläufen in den fünften Klassen der Orientierungsstufen in Emsbüren und in Spelle wurden die Entwürfe zum Fragebogen getestet und verbessert. Schließlich wurden alle Klassenlehrer des vierten Schuljahres im gesamten Emsland in den sechs einzelnen Dezernaten zur Dienstbesprechung eingeladen und in das genauere Verfahren eingewiesen. Jedem Klassenlehrer wurden eine bespielte Tonkassette und eine Mappe mit zwei Arbeitsbögen für die Schüler nebst einem Elternfragebogen überreicht. Die Schüler hatten zunächst einen plattdeutschen Text, der auf der Kassette vorgesprochen wurde, ins Plattdeutsche zu übersetzen. Danach mussten die Kinder hochdeutsche Wortgruppen ins Plattdeutsche übertragen. Anschließend wurden diese Tests von den jeweiligen Klassenlehrpersonen vorauswertet. Diese Methode hat sich als sehr praktikabel erwiesen. Insgesamt war die Art der Beteiligung der Grundschullehrpersonen sehr positiv, was sich insbesondere bei Rückfragen zeigte, die vereinzelt nötig waren.
Zeitgleich war zunächst schriftlich, dann telefonisch und schließlich persönlich Kontakt aufgenommen zu dem niederdeutschen Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Ludger Kremer, der gezielt die jeweiligen Schritte im Emsland fachspezifisch kommentierte und Tipps gab zu der weiteren Vorgehensweise. Weiterhin stellte er das emsländische Vorhaben auf der jährlichen Pfingsttagung der beteiligten niederdeutschen Sprachwissenschaftler vor. Daraus ergab sich das Angebot des Kieler Lehrstuhlinhabers Prof. Dr. Hubertus Menke, dass in der dortigen niederdeutschen Abteilung die emsländischen Daten sprachwissenschaftlich ausgewertet werden konnten. Da vom Landkreis die entsprechende finanzielle Zusage kam, konnten nach einer Vorauswertung fast 10.000 Seiten Schüler- und Elternbefragung nach Kiel gebracht werden.
Veröffentlichung der Ergebnisse
Damit lag eine umfangreiche regionale Untersuchung vor, die erstmals unterschied zwischen aktiver und passiver Sprachkompetenz auf Grund objektiver Testdaten. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Untersuchungswerten war auch in Fachkreisen so nicht vermutet worden: Nur noch drei Prozent der damals Zehnjährigen konnten gut plattdeutsch sprechen, aber über 40 Prozent der Heranwachsenden vermochten plattdeutsch noch gut zu verstehen.
Im Vorfeld zu dieser Untersuchung war von dem damaligen emsländischen Oberkreisdirektor Karl-Heinz Brümmer in einem persönlichen Gespräch in Aussicht gestellt worden, dass die Ergebnisse etwa im Rahmen der schon bestehenden Buchreihe „Wald im Emsland und „Moor im Emsland“ unter dem Titel „Plattdeutsch im Emsland“ veröffentlicht werden könnten. Als dann die Auswertungen der umfangreichen Untersuchungsdaten schriftlich vorlagen, zeigte der Nachfolger des plötzlich verstorbenen Karl-Heinz Brümmer auf dem Chefsessel der Kreisverwaltung offenbar wenig Interesse an einer Veröffentlichung des Aufsatzes in der Region, obwohl die bisherigen Sachkosten für diese Enquete großzügig vom Landkreis bezahlt worden waren. In einem Gespräch mit ihm und zwei weiteren Treffen mit dem Leiter der Schul- und Kulturabteilung des Landkreises stellte sich zunehmend deutlicher heraus, dass eine Veröffentlichung von dort nicht unterstützt werden sollte.
Daraufhin bot Prof. Dr. Ludger Kremer an, die Auswertung aufzunehmen in eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Diglossiestudien“[5]. Darin wurden weitere, allerdings kleinere Untersuchungen diesseits und jenseits der holländischen Grenze jeweils in der Landessprache vorgestellt. Damit war nun leider verbunden, dass diese emsländischen Ergebnisse in Wort und Grafik nur einem ganz begrenzten sprachwissenschaftlich interessierten Leserkreis vornehmlich außerhalb des Untersuchungsgebietes zugängig waren.
[1] Bernd und Eva Robben, Mundartgebrauch im Kreis Emsland. Eine regionale Schüler- und Elternbefragung, in: Diglossiestudien. Dialekt und Standardsprache im niederländisch-deutschen Grenzland. Hrsg. von Ludger Kremer/Landeskundliches Institut Westmünsterland (Westmünsterland. Quellen und Studien, Bd. 1), Vreden 1993, S. 89-122 (das letztere weiterhin, Kremer, Diglossiestudien). Für die Grafschaft Bentheim gibt es eine neuere Studie über die Sprachverhältnisse unter den Altreformierten hauptsächlich der Niedergrafschaft, die lange Zeit dreisprachig (Niederländisch, Hochdeutsch und Plattdeutsch) waren, wobei sowohl das Niederländische wie das Plattdeutsche an Boden verlieren (Melanie Bolks, Zur Triglossie in der Evangelisch-altreformierten Kirche der Grafschaft Bentheim – eine empirische Untersuchung, in: Niederdeutsches Wort. Beiträge zur niederdeutschen Philologie Bd. 44, Münster 2004, S. 217-233).
[2] Dieter Stellmacher, Wer spricht Platt? Zur Lage des Niederdeutschen heute. Eine kurzgefaßte Bestandsaufnahme (Schriften des Instituts für niederdeutsche Sprache, Reihe Dokumentation, Nr. 14), Leer 1987.
[3] Die Befragung wurde von Kremer in Zusammenarbeit mit dem Schulamt des Kreises Borken im Jahre 1981 durchgeführt, die Ergebnisse wurden in zusammengefasster Form veröffentlicht in: Ludger Kremer, Mundart im Westmünsterland. Aufbau, Gebrauch, Literatur (Schriftenreihe des Kreises Borken, Bd. 5), Borken 1983 (weiterhin Kremer, Westmünsterland).
[4] Der damalige Leiter des Schulaufsichtsamtes Emsland, Schulamtsdirektor Alfons Lögering, nahm dankenswerterweise sofort die Idee der kombinierten Schüler- und Elternbefragung auf und richtete zu ihrer Vorbereitung eine Arbeitsgruppe mit Helmut Diers, Karl Oldiges und Bernhard Tengen ein.
[5] Kremer, Diglossiestudien (wie Anm. 1).