Wilhelm Mevenkamp

Heraus aus der Anonymität!

Meine Erfahrungen mit der plattdeutschen Sprache sind – wie könnte es anders sein – untrennbar mit Kind­heit und Jugend verbunden. Auch wenn diese sich nicht unmittelbar im Emsland abspielten, so gab es doch viele enge Beziehungen hierhin. Aufgewachsen bin ich in Hauenhorst, einer Bauernschaft im südlichen Umfeld der Stadt Rheine. In den zwanziger Jahren wur­de dort der Rangierbahnhof Rheine „R„ errichtet, und viele Eisenbahner, darunter nicht wenige Emsländer, wurden hier ansässig.

Die vorher einklassige Bauernschaftsschule wurde nach und nach immer größer, bis sie kurz vor dem Kriege sogar auf drei Klassen anwuchs. Trotz des doch er­heblichen Zuzugs Ortsfremder blieb die plattdeutsche Sprache aber außerhalb der Schule die alleinige Umgangssprache. Allenfalls in den Familien – soweit Elterntei­le aus städtischen Verhältnissen oder entfernteren Regionen stammten – sprach man hochdeutsch. Zwischen Haustür und Schultür galt jedoch ausschließlich die plattdeutsche Sprache.

In meiner Familie bin ich zweisprachig aufgewachsen. Mein Vater war platt­deutsch groß geworden, während meine Mutter als Städterin hochdeutsch sprach. Ihre Eltern, die bei uns wohnten, sprachen jedoch wiederum platt. Mit uns Kin­dern haben sowohl die Eltern als auch die Großeltern ausschließlich hochdeutsch gesprochen. Da sie aber mit Nachbarn und Bekannten plattdeutsch sprachen und mein Vater mit seinen Schwiegereltern ebenfalls häufig plattdeutsch sprach, war ich immer schon sehr ins Plattdeutsche eingebunden.

Abgesehen von den Sprachbeziehungen zwischen den Familienangehörigen ei­nerseits und Nachbarkindetn und Schulfreunden andererseits, spielten mit zu­nehmendem Alter auch die Kontakte mit den übrigen Dorfbewohnern eine immer größere Rolle. Als ich dann mit 14 Jahren zu meinem Vater in die Malerlehre kam, dominierte durch den Verkehr mit der Kundschaft die plattdeutsche Sprache so sehr, daß ich – wenn ich es rückschauend betrachte – nicht nur plattdeutsch sprach, sondern auch dachte. Diese Identifikation ging so weit, daß ich mit meinem Vater im privaten und häuslichen Bereich nur noch plattdeutsch sprach.

Wie sehr ich die plattdeutsche Sprache verinnerlicht hatte, spürte ich besonders deutlich in der Soldatenzeit und der Kriegsgefangenschaft. Sobald ich damals merk­te, daß mein Gesprächspartner auch plattdeutsch sprach – man spürte es schon an der Klangfärbung des Hochdeutschen – dauerte es meistens nicht lange, bis der Funke übersprang und man sich plötzlich plattdeutsch unterhielt. Irgendwie fühl­te man sich dann persönlich besonders verbunden und empfand in der Fremde ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Heimatverbundenheit.

Als ich dann 1968 nach Meppen kam, begann für mich zunächst wieder eine aus­schließlich „hochdeutsche” Zeit. Als Direktor der Kreisberufsschule waren meine Gesprächspartner in der ersten Zeit fast nur Mitarbeiter von Behörden und Leh­rerkollegen, die ihrerseits auch nichts von meiner plattdeutschen Vergangenheit wußten. Bereits nach kurzer Zeit jedoch, sobald mein Bekanntenkreis sich aus der rein beruflichen Ebene heraus entwickelte, wurde Plattdeutsch wieder immer wichtiger für mich. Immer häufiger kam es vor, daß Gespräche, die zunächst hoch­deutsch begannen, plattdeutsch fortgeführt wurden mit dem Ergebnis, daß man plötzlich eine viel persönlichere Beziehung zu seinem Partner fand. Man spürte ir­gendwie die gleiche Wellenlänge.

Insgesamt würde ich sagen, daß mir mein Bestreben, überall dort, wo es sich an­bot, mit meinen Gesprächspartnern platt zu sprechen, in besonderem Maße ge­holfen hat, Zugang zu den Emsländern zu finden, denen man ansonsten schon mal nachsagt, die Zugezogenen als „tolopen Volk” zu apostrophieren.

Diese meine persönlichen Erfahrungen mit der plattdeutschen Sprache kann man meines Erachtens durchaus verallgemeinern und daraus den Schluß ziehen, daß sie ein ganz wichtiges Instrument sein kann, um Menschen aus der leider immer gravierender werdenden Isolierung und Anonymisierung unserer Zeit herauszu­führen. Noch für meine Generation war das persönliche Gespräch dominierend für den Erwerb der Sprachkompetenz.

Heute haben die Medien mit der ganzen Wucht und Vielfalt ihrer Erscheinungs­formen die Menschen weitgehend „sprachlos” und damit kommunikationsunfähig gemacht. Herausführung aus dieser Sprachlosigkeit und Einbindung in das Bezie­hungsgeflecht unseres emsländischen Lebensraumes ist eine Aufgabe, an deren Bewältigung die plattdeutsche Sprache in hervorragender Weise mitwirken kann.