Dr. Hans Tiedeken

Sogar in New York

Zunächst zu mir selbst. Wie komme ich dazu, mich zu diesem Thema zu äußern? Nun, zum einen, weil mich die Herausgeber dieses Buches darum gebeten haben. Aber das allein rechtfertigt noch nicht meine Mitarbeit. Zum anderen aber hängt es wohl damit zusammen, daß ich rund 20 Jahre Oberkreisdirektor im Emsland, dann 12 Jahre Hauptgeschäftsführer eines kommunalen Spit­zenverbandes in Bonn gewesen bin und jetzt seit 16 Jahren Präsident des Deutschen Heimatbundes bin. Diese Tätigkeiten haben mir Einblicke in die soziale und kulturelle Bedeutung regionaler Lebens- und Sprachformen, gerade auch des Plattdeutschen, vermit­telt. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Man kann die Bedeutung der Mundart – hier des Plattdeutschen – für die Erhaltung und Pflege einer regionalen Lebensform, zur Bewahrung regionaler Identität und Eigenart gar nicht hoch genug einschätzen. Wie komme ich aber zu dieser Einschätzung gerade in einer Zeit, wo Grenzen fal­len oder abgebaut werden und alle Welt von Globalisierung, Maßstabsvergröße-rung und Vereinheitlichung spricht? Wie läßt sich das in Einklang bringen: auf der einen Seite größere Gebilde wie die Europäische Union, eine vernetzte, globale Welt mit der Weltsprache Englisch und auf der anderen Seite das Bekenntnis zur Erhaltung regionaler Lebensformen und Eigenheiten mit der plattdeutschen Mundart? Ist das nicht ein Widerspruch, der sich beim Blick über den regionalen Tellerrand von selbst auflöst?

Nein, dem ist nicht so. Größere Gebilde wie die Europäische Union oder eine ver­netzte Welt brauchen überschaubare, sozial und kulturell gefestigte Räume. Sie brauchen Regionen, die bereit sind, sie mitzutragen. Regionale Bausteine wie das Emsland sind die Grundpfeiler 4m größeren System. Wenn sie funktionieren, ei­genverantwortlich arbeiten und regionales Leben in Kultur, Sprache und Brauch­tum entfalten, können sie das größere System tragen und sind auch dazu bereit. Diese föderale Ordnung hat unser Grundgesetz vorgegeben, sie hat sich bewährt und auf ein föderal gegliedertes Europa – das Europa der Regionen – hingeführt. To­talitäre Systeme haben sich – wie gerade die neuere Geschichte lehrt – nicht halten können. Sie haben die Regionalität mißachtet, regionale Lebensformen unter­drückt und sich damit ad absurdum geführt.

Das heutige Europa – die Europäische Union – erkennt regionale Lebensformen aus­drücklich an. Das haben die zuständigen Organe der EU durch die Verabschiedung der Charta der kommunalen Selbstverwaltung und der Charta der regionalen Selbstverwaltung – an denen ich für den Deutschen Landkreistag mitgearbeitet ha­be – deutlich gemacht. Und dazu zählen eigenständiger kultureller und sozialer Zu­schnitt wie auch die Pflege eigenständiger Mundart.

Das war nicht für alle Mitglieder der EU mit zum Teil zentralistischen Vorstellun­gen von vornherein selbstverständlich. Aber das wurde durchgesetzt – mit deutli­cher Aufwertung regionalen Denkens. Man kann sogar feststellen, daß politische und administrative Tendenzen zur Vereinheitlichung, zur zentralen Lenkung und globalen Handhabung – auf welcher Ebene auch immer – Gegenbewegungen, spür­bare regionale Aktivitäten hervorgerufen haben, die wie ein Gegenstrom wirken und die Menschen in ihrer und für ihre Region beflügeln. Der Weg zur größeren Einheit hat gleichzeitig den Zug zur Entfaltung regionaler Lebensformen, zur Be­wahrung regionaler Identität und Eigenart, gerade auch auf dem Gebiet von Brauchtum und Mundart, herausgefordert und gefördert.

Das gilt auch für das Plattdeutsch im Emsland.

Ich bin mit der plattdeutschen Mundart als Papenburger von Kind an in Berührung gekommen, beim Spielen und auch in der Schule (allerdings auf dem Schulhof). Zu Hause sprachen wir zwar hochdeutsch, aber im Geschäft meines Vaters sprach die Kundschaft oftmals platt, und dadurch lernte ich es auch. Seinerzeit wurde die plattdeutsche Sprache (leider!) „etwas tief” angesiedelt; man sprach hochdeutsch!

Aber als ich nach Kriegszeit und Ausbildung in den 50er Jahren wieder beruflich ins Emsland zurückkehrte, nahm der Stellenwert des Plattdeutschen zu. Für mich war das Platt auch wichtig; denn die Bürgermeister und Gemeindevertreter der da­mals noch 53 Gemeinden im Landkreis Aschendorf-Hümmling und zuvor im Krei­se Meppen sprachen, abgesehen von den Städten, gern platt. Man kam besser über das Plattdeutsch an das Anliegen seiner Gesprächspartner heran, und man kam sich auch viel näher. In ihrer Heimatsprache fühlten sich die Bürgermeister und Gemeindevertreter sicherer, und manches läßt sich auch im Plattdeutschen viel besser und vor allem treffender ausdrücken. Das Plattdeutsch ist plastischer und griffiger.

Ohne Plattdeutsch hätte ich manches gar nicht erfahren und wäre damit ein schlecht unterrichteter Oberkreisdirektor gewesen. Mir persönlich hat es man­chen Zugang erleichtert. Für kommunale Vertreter im Emsland ist die Kenntnis des Plattdeutschen ein großer Vorteil, ich würde fast sagen (leicht überspitzt!) Einstel­lungsvoraussetzung!

In meiner Bonner Zeit war das Plattdeutsch nicht so gefragt – abgesehen von be­sonderen Veranstaltungen in der Niedersächsischen Landesvertretung, vor allem in der Zeit, wo Minister Hasselmann der Bonner Vertretung vorstand, oder wenn Minister Werner Remmers dort auftrat; dann wurde „platt gekürt”.

Ein besonderes Erlebnis war für mich mein Besuch Ende der 60er Jahre beim Pa-penburger Club in New York. Hier trafen sich am ersten Montagabend in jedem Monat Papenburger Einwanderer, und Pflichtsprache war Papenburger Platt. Auch Hermann Lenger, der 1925 ausgewandert war und den ich damals besuchte, sprach mit mir bei sich zu Hause platt. Leider gibt es heute diesen Papenburger Club nicht mehr; die nachwachsende Generation hat die Verbindung zur Heimat und Heimatsprache leider nicht mehr so gepflegt.

Im Deutschen Heimatbund haben wir eine eigene Fachgruppe für Brauchtum und Mundart ins Leben gerufen, die zusammen mit unseren 18 Landesverbänden und ihren Vertretern intensiv arbeitet und sich um die Erfassung und Erhaltung von Brauchtum, Trachten und Heimatsprache kümmert. Gleiches gilt für den Nieder­sächsischen Heimatbund. Man sieht also, daß der Rahmen in Europa und in unse­rem Lande gesteckt worden ist. Es gilt, ihn auszufüllen. Im Emsland und besonders beim Emsländischen Heimatbund sind dafür gute Voraussetzungen gegeben. Zu­nehmende Aktivitäten belegen: „Man kürt gern platt!”

Helena Ubbenjans

Dörfliches Leben ­plattdeutsches Leben

Hier in den Dörfern des alten Hümmling wurde und wird überwiegend plattdeutsch gesprochen. In meinem Elternhaus, wo ich mit acht Geschwistern aufgewach­sen bin, war Plattdeutsch unsere alltägliche Umgangs­sprache. Auch in den Familien unserer Verwandtschaft, die über den ganzen Hümmling reichte, wurde immer plattdeutsch gesprochen.

Als Kindern im Vorschulalter war uns aber die hoch­deutsche Sprache nicht fremd, weil in der Familie die täglichen Gebete auf Hochdeutsch gesprochen wurden. Unsere Eltern und auch die älteren Geschwister sangen mit uns Kinderlieder auf Hochdeutsch. In der Schu­le wurde nur das Hochdeutsche angewandt. In den Pausen verfielen die Kinder dann ohne Ausnahme in ihr heimisches Platt.

An den Schulen wurde die plattdeutsche Sprache von den Lehrkräften ganz un­terschiedlich bewertet. Die Kinder am Mariengymnasium in Papenburg durften auch in den Pausen auf dem Schulhof kein Plattdeutsch sprechen, wohingegen ei­ne junge Lehrerin aus Sögel am Gymnasium ganz angetan meinte: „Ihre Kinder sprechen ja zwei Sprachen!” So verschieden sind die Bewertungen und die Ein­stellungen zu unserer Ursprache.

Zur Zeit meiner Eltern – mein Vater war im Jahr 1870 geboren, meine Mutter 1875 – war es auch schon so, daß in der Kirche und in der Schule hochdeutsch geredet und geschrieben wurde. Mein Vater hat immer erzählt, daß er mitgespielt habe im Theater vom Heiligen Franz von Assisi, und auch im Gesangverein habe er mitge­sungen.

Es war genauso wie heute, nur gab es kein Fernsehen und kein Radio. Es wurde unter Nachbarn, Verwandten und Bekannten viel mehr erzählt, und man besuch­te sich mehr als heute. Dann wurde immer plattdeutsch gesprochen. Die alten Bräuche: Dätt Neijohr offwinnen, dätt Dreikönigssingen, dätt Palmbessen utbrin-gen, dei Tunschere of dei Wärpelraut bringen, gehören zur uralten Hümmlinger Kultur. Man müßte noch schreiben über Geburt, Hochzeit, Kindtaufe und das En­de des Lebens. Bei all diesen Anlässen war Nachbarhilfe angesagt.

Heutzutage wird kein Kind auf dem Schulhof plattdeutsch sprechen, weil viele jun­ge Eltern die plattdeutsche Sprache nicht mehr beherrschen und weil sie bei eini­gen als rückständig angesehen wird. In meiner Umgebung, ob es nun Kinder oder Familienfeiern auf dem Lande, um das zu erleben. An dieser Stelle sei ein Wort zu den plattdeutschen Lesewettbewerben erlaubt: Kein noch so guter Lesewettbe­werb kann die wenn auch nur in homöopathischen Dosen verabreichten platt­deutschen Äußerungen eines methodisch geschickt agierenden Lehrers ersetzen; im Unterricht wird Plattdeutsch erlebt, im Lesewettbewerb viel zu oft ohne Ver­innerlichung nachgeahmt.

In meinem heutigen Leben bereitet es mir jedes Mal Vergnügen, mit plattdeutsch sprechenden Menschen zusammenzukommen. Der Kontakt zu Nachbarn, Hand­werkern und anderen läßt sich, wenn das Wort erlaubt ist, viel gemütlicher an, man fällt nicht mit der Tür ins Haus, erst kommt ein „Prötken över`t Weer”: „Wi mött sao nödig Regen hebben…!” Danach wird dann das gewünschte Anliegen vorgebracht. Plattdeutsch zu sprechen hat immer auch etwas mit „Zeit haben” zu tun. Vielleicht gehört das Prötken auch in den immerwährenden Rhythmus von Arbeit und Pause.

Die soziale Bedeutung des gemeinsamen Plattdeutsch ist seit dem letzten Krieg nicht mehr gegeben. Die erheblich gewachsene Bevölkerung bietet einen sprach­lichen Flickenteppich, von dem man nicht weiß, wie er sich weiterhin gestalten wird, zumal Medien und Werbung als nicht willkommene Sprachlehrer einen im­mer größeren Einfluß erhalten. Die gegenwärtige kulturelle Bedeutung des Platt­deutschen sehe ich darin, daß es eine der wichtigsten Ausdrucksformen bietet, um altes emsländisches Brauchtum zu beschreiben, das von seiner damals verwende­ten Sprache nicht zu trennen ist. Desgleichen bedarf es auch des überlieferten Plattdeutsch, um frühere menschliche Schicksale in dieser Landschaft zu beschrei­ben, die immer etwas mit Sprache zu tun hatten.

Cornelis van der Hoek

Wenn der Doktor kommen muß

 

Als ich als junger Arzt meinte, in der Grafschaft glück­lich werden zu können – nicht gehindert durch die deutsche Sprache und sowieso nicht durch Kenntnisse des Plattdeutschen -, stieß ich schnell auf Probleme. Nicht nur, daß meine an der Universität eingeprägten Ideale schlecht über die Bühnenbegrenzung zu bringen waren, ich war dabei anscheinend auch noch schlecht zu verstehen.

Ermutigungen, es doch „up Hollansch te doun”, erbrachten auch keinen Erfolg, weil ich ein anderes Holländisch redete, verglichen mit der Sprache Kanaans, die man in reformierten Kreisen der Grafschaft beherrschte.

Ich war erst eine Woche in der Grafschaft, als Oma M. im Sterben lag. Sie war gut in den 90er Jahren und lebenssatt. Ihr Sohn, auch bereits Ende 60, nahm nach meiner Ankündigung, daß das Sterben nahe sei, die Statenbibel hervor und las Psalm 91. Mühsam, mit seiner tiefen Stimme, las der Sohn das antike Holländisch, und fügte damit für mich der Wahrheit am Krankenbett eine neue Dimension hin­zu. Von dem, was sonst noch gesagt wurde zwischen der Oma und ihrer Familie, verstand ich kein Wort.

Langsam habe ich im Laufe der Jahre das Platt kennen- und liebengelernt – richtig sprechen nie, aber verstehen kann ich es gut. Auffallend blieb mir in all den 36 Jah­ren, daß auf Platt die Tatsachen des Lebens selten beim Namen genannt werden. Auf meine Empfehlung, doch lieber ins Krankenhaus zu gehen, sagte man selten „Nein”. „Da wok nig gerre”, oder – noch verwirrender – ein lang gezogenes „Joaa” bedeutete meistens, daß man absolut nicht vorhatte, den Vorschlag zu befolgen.

Und ging es dem Patienten besser, lautete die Antwort im Idealfall: „Et is nich lieder worden”. Ich war dann schon sehr zufrieden mit meinem Erfolg, aber es dau­erte wohl einige Jahre, bis ich kapierte, daß dieser unterkühlte Ausdruck das Ma­ximum der Gefühle ausdrückte.

Selbstmord heißt im Grafschafter Platt: „He häf sick te kort doane”, oder noch sanf­ter: „He is nig utludt”. Komisch fand ich auch, daß sehr alte und sehr kranke Pa­tienten feminisieren, also verweiblichen – nicht nur als psychologisches Phäno­men, sondern auch als Idiom: „See is zwoar zeek, Dokter!” – und dann war es der Opa, der ärztliche Hilfe brauchte.

Homophilie gab es nicht. Ein schon einigermaßen betagter Mann gab auf mein Be­fragen, warum er sich keine Frau gesucht habe, zur Antwort: „As se mi met Stickerdroat op een Wief bunden, dann konn eck der doch nicks met!”

„Kusenkellen” ist auf Platt so nahezu das Schlimmste, was man bekommen kann. Und ich habe entdeckt, man erfährt am meisten, wenn man versucht, jemandem auf Platt die eigenen Leiden mit den „Kusen” zu erzählen. Was man dann alles zu hören bekommt an menschlichem Leid und Leiden!

Ein alter Bauer war als Zeuge beim Schiedsgericht geladen. Zwei Nachbarn hatten sich in Anwesenheit des Bauern über einen Baum und dessen Verhältnis zum Grenzstein gestritten, und im Laufe des Gesprächs war es zu körperlicher Gewalt gekommen. Die große Frage war nun, wer hatte mit der Schlägerei begonnen. Der Bauer: „Eck har mie net umdreht un ek drehde weer trugge, an doar lagge see up-mekare un hoaden sick.” Nicht unschlau, denke ich.

Meine etwas krumme deutsche Frage, wie eine Patientin verkehrsmäßig ausge­stattet sei, provozierte die Antwort: „Eer:moal toe Kermis en eenmoal toe Nee-joahr.” Und es war Anfang Januar und so nicht gemeint!

Ich bin überzeugt, daß das Grafschafter Platt auf ganz besondere Weise den Volks­charakter spiegelt. „Dokter, kunn ieh miene Fraow nich schonend biebrengen, dat se sterft?”, war so eine Bitte, mit der man versuchte, das Unabwendbare zu be­sänftigen. Konflikte werden so weit wie möglich gemieden. Im Notfall probiert man, das Problem vor sich herzuschieben, in der Hoffnung, daß es sich von allein löst.

Vergessen tut man aber auch nichts. „Wie kunt nich tegen joe proaten, wel tegen joe stimmen”, bekam ein Pastor zu hören, nachdem ein unbeliebter Vorschlag von seiner Gemeinde diskussionslos abgeschmettert wurde. Ich war gern Arzt in der Grafschaft, aber für kein Geld in der Welt hätte ich hier Pastor sein wollen!

Dr. Hermann Wiarda

„Har’n Se`n Törfpand…”

Wer wie ich aus einer ostfriesischen Familie stammt und dessen Vater noch in einer hochdeutschen, platt­deutschen und niederländischen Sprachumgebung auf­wuchs, hat zu dem Plattdeutschen eine ganz besonde­re Beziehung, obwohl bei uns zu Hause die Umgangs­sprache zwischen Eltern und sechs Geschwistern Hochdeutsch war.

Das Plattdeutsche tröpfelte jedoch jeden Tag in unsere Ohren: „He ridd up`t Perd un` söcht daornao!”, „Wat se half weet, kann se ganz verteilen!”, „Kieneen is so klook äs man sülvs!” und „Loop nich mit Ian un alle Mann!” bemerkte mein vaier spaßig oder mahnend; las abends im Familienkreis platt­deutsche Geschichten von Fritz Reuter vor und versank, wenn alte Freunde oder Bekannte aus seiner Jugend- und Studienzeit kamen, regelrecht in dem ihm ver­trauten ostfriesischen Platt.

Wir Kleinen standen dabei und hörten staunend zu. Als Kinder kamen wir infolge der Versetzung meines Vaters nach Lünne in eine Emsländer Platt sprechende Ein­wohnerschaft, die meinte, mit uns Pastorenkindern hochdeutsch reden zu müs­sen, dabei aber viele plattdeutsche Wortgebilde einfließen ließ, so daß wir zu Hau­se zurückfragten, was wohl gemeint gewesen sei. Weil ich mich in jeder freien Mi­nute bei den Bauern in der Nachbarschaft aufhielt, lernte ich das Plattdeutsche im täglichen Umgang ganz von selbst und erwarb während meiner landwirtschaftli­chen Lehre im ehemaligen Landkreis Lingen auch ein Gespür für die in dem Platt­deutschen sehr wohl vorhandenen Sprachebenen, die zahlreichen Lautmalereien und Sprachbilder, Sprichwörter und nicht zuletzt für den tieferen Sinn der zahlrei­chen emsländischen Dönkes.

Im Verlauf meiner langjährigen Tätigkeit als freier Mitarbeiter bei der hiesigen Zei­tung kam es zu intensiven Berührungen mit dem plattdeutschen Theaterspiel, das ich bis heute mit viel Freude in der gleichen Sprache kommentiere. Meine Erfah­rungen in dem aktiven Umgang mit dem Plattdeutschen sind mir heute zu einer glücklichen Erinnerung geworden. Mir ist immer wieder aufgefallen, daß das Platt­deutsche unter den in dieser Mundart Kundigen sofort Vertrautheit schafft; man er­freut sich nicht nur gleicher regionaler Herkunft, sondern fühlt sich auch zusam­mengehörig. Menschen einer Landschaft denken in ähnlichen Kategorien, wie sie durch das Zusammenleben von mehreren Generationen, den Rhythmus von Saat und Ernte, die Verknüpfung von Arbeit und Lebensunterhalt und auch durch Ge­burt und Tod bestimmt werden.

Ich erinnere zum Beispiel an die Pluralanrede gegenüber alten Menschen und oft auch gegenüber den ergrauten eigenen Eltern. Mir sind die Koseworte gegenüber kleinen Kindern ebenso in den Ohren wie die sehr differenziert angewendete sprachliche Begegnung mit Gleichgestellten, höher oder niedriger betrachteten Menschen. Der Begriff der Sprachsoziologie war noch nicht formuliert, aber dem Kenner des Plattdeutschen innerhalb der gewohnten Wortbedeutungen und ver­wendeten Lautierung vertraut. Jede Generation übernahm den Wortschatz von der vorhergehenden; das Plattdeutsche konnte sich, da es nicht in die Fesseln einer Schriftsprache eingebunden war, immer weiter entwickeln und viele Dialekte bil­den.

Plattdeutsch bleibt im Menschen auch dann haften, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, einer hochdeutschen Umgebung und einer zusätzlichen und ver­pflichtenden hochdeutschen Amtssprache ausgesetzt wird. Die eingeschlagenen Pfosten plattdeutschen Wortschatzes zur humorvollen Beschreibung besonderer Umstände, das Instrument einer wohl angeborenen Lautmalerei und das Wich-tigsein einer menschlichen Gesprächsatmosphäre treten immer wieder hervor und kennzeichnen sowohl die Menschen des emsländischen als auch des ostfriesischen Raumes. In Aurich war (und ist hoffentlich noch) an dem Regierungsgebäude auf einer unübersehbaren Tafel zu lesen. „Hier word Platt prot`t!”

Für mich als Leiter eines Studienseminars zur Ausbildung von Studienreferenda­ren für das Lehramt an berufsbildenden Schulen war die Verwendung des Platt­deutschen ein vielseitiges methodisches Instrument. Lehrer und Lehrerinnen, die platt sprechen, sind den emsländischen und ostfriesischen Schülern auch heute noch näher und vertrauter als ein „nur” hochdeutscher Pädagoge. Die Auszubil­denden haben mehr Möglichkeiten, sich im Unterrichtsgespräch zu artikulieren und vor allem ihrer Meinung zu dem jeweiligen Stoff deutliche Konturen zu ver­leihen, die manchmal sogar zu einem vielschichtigen Statement werden.

Ein Schüler sagte am Ende einer Stunde, in der über die Abhängigkeit der Bevöl­kerung von dem Erdöl gesprochen wurde, seinem erstaunten Lehrer: „Har’n

Törfpand, har’n Se kiene Ölkrise; awer Se bünt ja nick von hier!” Als der junge Kollege das Argument einer drohenden Arbeitslosigkeit in das Gespräch einbrachte, lautete die Antwort: „Dann häbt wi Tied, alles önnlick naotokieken, uptorümen un alles in Schuß to brengen!” Dem plattdeutsch sprechenden Lehrer steht ein Vielfaches an Möglichkeiten der Impulsgebung zur Verfügung, weil er alle Lernenden mittels unterschiedlichen Sprachgebrauchs und damit reicherer Verwendung von Verben ansprechen kann und auch die erreicht, die als Auszubildende einem ausschließlich plattdeutsch sprechenden Meister oder Gesellen und vielfach auch Kunden gegenüber stehen.

Vergessen wir nicht: Das Emsland und besonders Ostfriesland sind mit Ausnahme der Städte, scharf formuliert, auch heute noch plattdeutsch geprägte Räume, die sich dem Hochdeutschen geöffnet haben. Man gehe einmal zu Volksfesten oder Familienfeiern auf dem Lande, um das zu erleben. An dieser Stelle sei ein Wort zu den plattdeutschen Lesewettbewerben erlaubt: Kein noch so guter Lesewettbe­werb kann die wenn auch nur in homöopathischen Dosen verabreichten platt­deutschen Äußerungen eines methodisch geschickt agierenden Lehrers ersetzen; im Unterricht wird Plattdeutsch erlebt, im Lesewettbewerb viel zu oft ohne Ver­innerlichung nachgeahmt.

In meinem heutigen Leben bereitet es mir jedes Mal Vergnügen, mit plattdeutsch sprechenden Menschen zusammenzukommen. Der Kontakt zu Nachbarn, Hand­werkern und anderen läßt sich, wenn das Wort erlaubt ist, viel gemütlicher an, man fällt nicht mit der Tür ins Haus, erst kommt ein „Prötken över`t Weer”: „Wi mött sao nödig Regen hebben…!” Danach wird dann das gewünschte Anliegen vorgebracht. Plattdeutsch zu sprechen hat immer auch etwas mit „Zeit haben” zu tun. Vielleicht gehört das Prötken auch in den immerwährenden Rhythmus von Arbeit und Pause.

Die soziale Bedeutung des gemeinsamen Plattdeutsch ist seit dem letzten Krieg nicht mehr gegeben. Die erheblich gewachsene Bevölkerung bietet einen sprach­lichen Flickenteppich, von dem man nicht weiß, wie er sich weiterhin gestalten wird, zumal Medien und Werbung als nicht willkommene Sprachlehrer einen im­mer größeren Einfluß erhalten. Die gegenwärtige kulturelle Bedeutung des Platt­deutschen sehe ich darin, daß es eine der wichtigsten Ausdrucksformen bietet, um altes emsländisches Brauchtum zu beschreiben, das von seiner damals verwende­ten Sprache nicht zu trennen ist. Desgleichen bedarf es auch des überlieferten Plattdeutsch, um frühere menschliche Schicksale in dieser Landschaft zu beschrei­ben, die immer etwas mit Sprache zu tun hatten.

Hermann Wilkens

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Platt lutt moj

„Platt lutt moj”, Plattdeutsch klingt schön, so heißt der Titel eines Lesebuches, das vom Arbeitskreis „Mesters prootet Platt” beim Schulaufsichtsamt Emsland im Jahr 1993 herausgegeben wurde und an unserer Schule gern eingesetzt wird.

Und in der Tat, Platt luttrnicht nur moj, sondern ver­breitet auch eine freundliche Atmosphäre, fördert die Gemütlichkeit in froher Runde und bringt die Men­schen untereinander schnell in Kontakt. Das Plattdeut­sche hat viele Dönkes, Vertellsels, Lieder und Spiele, die

erhalten bleiben müssen und nur auf Plattdeutsch auch so klingen, wie sie gemeint

sind, und deshalb beim Zuhörer ankommen.

Plattdeutsch hat sogar auch dann noch eine nette Art, wenn man jemandem deut­lich seine Meinung sagen möchte. Nennt man einen Zeitgenossen einen „Dwäs-büngel” (Quertreiber), so ist die verbal verletzende Spitze eines hochdeutschen Wortes genommen, obwohl der Betroffene ganz genau weiß, was man von ihm hält.

Ein Beleg hierfür ist auch die angeblich wahre Begebenheit, bei der ein Hausbesit­zer einen an seinem Haus vorbeiführenden kleinen Privatweg für die Öffentlich­keit nicht weiter zugänglich machen wollte und ein Schild mit der Aufschrift an­brachte: „Verbotener Patt”. Dies rief sofort die Kreativität seiner Nachbarn und Mit-anlieger auf den Plan, die ihm folgende schriftliche Antwort als Retourkutsche auf sein Schild malten: „Lick mi ant Gatt”.

Die plattdeutsche Sprache hat mich von Kindesbeinen an begleitet. Über Genera­tionen hinweg wurde zu Hause in Neubörger vorwiegend plattdeutsch gespro­chen. Bedingt dadurch, daß zu meinem Elternhaus eine Gaststätte, eine Landwirt­schaft, eine Poststelle und eine Viehwaage gehörten, war dort immer ein reger Pub­likumsverkehr vorhanden, und so wurde ich schon Mitte der 50er Jahre sehr früh mit dem Plattdeutschen vertraut.

Als kleiner Junge fiel mir damals auf, daß die Flüchtlinge, die nach dem zweiten Weltkrieg in Neubörger eine neue Heimat gefunden hatten, wenn sie dann ihre Rente an der Post abholten und anschließend in die Gaststätte kamen, ein anderes, für mich etwas fremd klingendes Platt sprachen. Dies hat aber ihre Integration in keinster Weise behindert. Im Gegenteil! Dadurch, daß sie versuchten, sich in der plattdeutschen Sprache zu artikulieren, gewannen sie schnell die Herzen der Einheimischen. Wenn auch ihr Plattdeutsch stets etwas merkwürdig klang, so kam man doch darüber ins Gespräch, und man sprach miteinander und weniger über­einander.

Schwierig wurde es für mich Anfang der 60er Jahre auf dem Papenburger Gym­nasium, das auch von vielen Ostfriesen besucht wurde, das Platt ihrer Region zu verstehen. In den Pausen „kauelten” die ostfriesischen Mitschüler platt unterein­ander, und dieses Plattdeutsch klang sehr urtümlich und fremd für die Ohren eines Hümmlingers. Gleichwohl muß man aber festhalten, daß die Ostfriesen ihrer Spra­che und ihrer Tradition treu blieben. Hinnerk blieb nun mal Hinnerk und wurde nicht, wie es im Emsland oft üblich war, zu Heinz oder Heiner.

Während meiner Schulzeit war ein deutlicher Trend zu erkennen, nicht mehr platt­deutsch sprechen zu wollen. Plattdeutsch wurde quasi gleichgesetzt mit weniger gebildet, dümmer zu sein. Plattdeutsch war „out”. Es war nicht mehr schicklich, platt zu sprechen. Hochdeutsch war „in”.

Dabei konnte es zu lustigen Begebenheiten wie folgender kommen: Eine junge Mutter ruft ihren draußen im Garten spielenden Sohn, der für sie vom Kaufmann etwas holen soll, mit dem Satz: „Berni, lauf mal schnell zum Kaufmann Gerdes und hol für 5 Pfennig Schwäfelsticken.” Dabei muß man wissen, daß Schwäfelsticken Streichhölzer bedeuten. Es war also gar nicht immer so einfach, auf die Schnelle vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche zu übersetzen.

Das Plattdeutsche hat mich auch beruflich bis heute begleitet. Als ich im Februar 1987 meinen Dienst an der Ludgerusschule Rhede antrat, hatte sich der leider in­zwischen verstorbene Bürgermeister Wilhelm Loth, der für seine humorvolle und bürgernahe Art bekannt war und selbst oft und gerne plattdeutsch’sprach, bereits folgendermaßen über meine Person geäußert: „Wenn hei plaett proten känn, dänn könn wie wall mit üm utkoamen.”

Und in der Tat, gerade in der linksemsischen Gemeinde Rhede wird das Plattdeut­sche noch sehr gepflegt. Dies ist auch verständlich, steht man doch in der Tradi­tion und auch in der Verpflichtung des Rheder Heimatdichters Gerd Aorns, der in der dritten von fünf Strophen des Liedes „011e Rheen”, das oft und gerne bei fest­lichen Anlässen in der Gemeinde gesungen wird, folgenden Text verfaßt hat:

Einfache Lüh, niks upgetoakelt,

Dei läwet dor, sei protet platt,

Doch segg datt vull, wenn sei mi fraoget
Büs du uk hier, wo geiht die datt?
Wenn Sehnsucht mi ant Hatte naoget
Gaoh ik naoh Rheen, dann frei ik mi.
0lle Rheen dor an de Ämße,

0lle Rheen, dann bünk bi di.

Daß Plattdeutsch auch international gefragt ist, sollen folgende zwei kleine Begebenheiten verdeutlichen: Im Sommer 1993 haben mein niederländischer Kollege Gerardus Hagenes, Schulleiter der Basisschool „Oosterschool”/Bellingwolde und ich im Groninger Rundfunk „Radio Noord” in der Sendung ,:fien uur” mit der Mo­deratorin Imka Marina – bekannt als Interpretin des Ohrwurms der 70er Jahre „Eviva Espana” – Werbung für die I5-Jahr-Feier anläßlich der Partnerschaft zwi­schen den Gemeinden Bellingwedde und Rhede/Ems gemacht. Damit konnte je­der in seiner platten Mundart sprechen. Die Verständigung auf Emsländer und Groninger Platt klappte ausgezeichnet, sind doch durchaus Ähnlichkeiten vorhan­den.

Im Sommer 1996 waren wir mit 37 Altherrenfußballern des SC Blau-Weiß 94 Papenburg für 14 Tage in Chicago und nahmen dort unter anderem an einem inter­nationalen Fußballturnier teil. Viele Deutschstämmige, die wir auf dieser Reise ge­troffen haben, sprachen besser platt als hochdeutsch, und die Freude war jedesmal groß, wenn sie wieder vertraute heimatliche plattdeutsche Worte und Lieder hör­ten. Man sah deutlich den Schimmer in ihren Augen, als wir bei einer abendlichen Feier das Friesenlied auf Plattdeutsch anstimmten. Erstaunlich war für uns, daß auch viele junge Amerikaner, deren Großeltern Anfang der 50er Jahre in die USA ausgewandert waren, das Plattdeutsche noch verstehen konnten. Allerdings ha­pert es verständlicherweise etwas mit dem aktiven Gebrauch der plattdeutschen Sprache.

Wie wird es weitergehen mit der plattdeutschen Sprache? Viele Institutionen bemühen sich, das Plattdeutsche zu pflegen – wohlwissend, daß das geschriebene Platt in seinen oft sehr verschiedenen Dialekten schwierig zu vermitteln ist. Lo­benswert ist dabei der von der Kreissparkasse im Turnus von zwei Jahren initiier­te Lesewettbewerb „Schüler lesen Platt”, der Schülerinnen und Schüler aller Alters­klassen motivieren soll, sich mit der plattdeutschen Sprache auseinanderzusetzen.

Bessere Chancen räume ich dem gesprochenen Platt ein. Und hier ist die jetzige Generation gefragt, aktiv und offensiv das Plattdeutsche zu vertreten. Auch die Schulen können hier ihren Beitrag leisten, indem zum Beispiel bei den im Stun­denplan verankerten Arbeitsgemeinschaften Theaterstücke in plattdeutscher Spra­che angeboten werden. Bei Sitzungen der örtlichen Heimatvereine sollte grundsätzlich die „Amtssprache” Plattdeutsch sein.

Die plattdeutsche Sprache hat nur eine Chance zu überleben, wenn sie mündlich tradiert wird. Und dabei ist es unerheblich, in welchem Dialekt man spricht. Ein Beispiel mag dies zum Schluß verdeutlichen: „Ik ga over dei Strate hen mien Naa-ber, wenn ik Daest haebbe…”, so heißt es im Neubörger Platt. „Ik gao över dei Straote nao mien Naober, wenn ik Döst heb…”, so das Rheder Platt. Ob nun Hümmlin-ger oder Rheder Platt, die Intention ist unverkennbar eindeutig; endet doch solch ein Treffen oft in einer gemütlichen Atmosphäre und in fröhlicher Runde.

Wie gesagt: „Platt lutt moj.”

Hedwig Wilken – Kewe

Vull makliker

Es war zum Kriegsende 1945. In Brümsel, einer kleinen ländlichen, 200 Einwohner zählenden Gemeinde, wur­de ich geboren. Die Geschwisterreihe war, wie auch in den Nachbarfamilien, sehr groß. Ich wurde als vierte Tochter geboren und hatte auch schon drei Brüder. Nach mir vergrößerten noch zwei Schwestern und drei Brüder unsere Familie. Außerdem gehörten in vielen Jahren zwei weibliche und zwei männliche Angestellte, ene groote un ene kläne Maacht un nen klänen un nen groten Knecht, zur Hausgemeinschaft.

Es war eine Zeit, in der getragene Kleidungsstücke aus‑

einandergetrennt und neu geschneidert wurden. Zu der Zeit wurde bei uns zum Mittagessen ein Glas Kirschen als Nachtisch geteilt, so daß jeder sieben Kirschen bekam. Es war aber auch eine Kindheit, in der sehr viel draußen gespielt wurde. In den Jahren um 1955 tanzten wir oft in der großen Bau­ernküche oder auf der Diele mit der Nachbarjugend.

In meinem Elternhaus wurde nur die plattdeutsche Sprache gesprochen. Ich kann mich nicht erinnern, vor meiner Schulzeit bewußt die hochdeutsche Sprache wahrgenommen zu haben. Mein Vater sagte dann wohl: „I könnt ja gar nich mehr önlick plattproten. Et hät nich Pilze, dat sint Pännstöhle, un dat sint nich Fliesen, dat sint Esterkes.” („Ihr könnte ja gar nicht mehr richtig plattdeutsch sprechen. Es heißt nicht Pilze, sondern Pännstöhle, und das sind keine Fliesen, sondern das sind Esterkes.”)

Mit der Fremdsprache Hochdeutsch wurden wir dann langsam in der Volksschule vertraut. Die Übergang hat mich keineswegs belastet. Die einzelnen Worte wur­den ja systematisch gelernt. Durch die Zusammensetzung der einzelnen Buchsta­ben entstand ein neues Wort. Diese Wörter waren dann zudem noch reichlich be­bildert dargestellt. Zum Beispiel spritzte beim Buchstaben I Wasser aus einer Pum­pe, und ein bunt gekleidetes Mädchen bekam unverhofft kaltes Wasser ins Ge­sicht. Es war interessant.

In meinem Jahrgang waren einige Flüchtlingskinder. Sie konnten sehr viel besser das richtige Wort finden und besser erzählen. Es passierte schon mal, daß man vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche übersetzte. Eine kurze Begebenheit dazu: Ein Mitschüler hatte heftige Bauchschmerzen und traute sich nicht, dies unserer Lehrerin mitzuteilen. Ganz mutig ging ich los und berichtete der Lehrerin: „Karl-Heinz hat Bauchpiene (Bauchschmerzen).” Ich habe mich geschämt, aber niemand hat gelacht. Für unsere Lehrerinnen und Lehrer gehörten solche Versprecher zum alltäglichen Leben. Ebenso war es zum Beispiel mit dem „mir” und „mich”, „dir” und „dich”, die verwechselt wurden. In der plattdeutschen Sprache heißt es da ein­fach „mi” und „di”.

1960 begann ich meine Banklehre. Die Kundschaft sprach zum großen Teil platt­deutsch. Es war ein großer Vorteil, von der plattdeutschen Sprache in die hoch­deutsche Sprache ohne Probleme zu wechseln. Ohne zu überlegen spricht man mit einer Person hochdeutsch und mit der nächsten plattdeutsch. Ich glaube, so wie man bei der ersten Begegnung mit einem Menschen spricht, so ordnet man ihn einer Sprache zu. Es kommt immer wieder vor, daß in Verwandtschafts- und Bekanntenkreisen Gesprächsrunden zusammentreffen, in der beide Sprachen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Mit dem Gesprächspartner zur rechten Seite unterhält man sich hochdeutsch und zur linken Seite plattdeutsch.

Seit 1991 bin ich Bürgermeisterin der 600 Einwohner zählenden Gemeinde Wett-rup. Auch hier sprechen noch viele plattdeutsch. So hat es Vorteile, beide Sprachen anwenden zu können. In den letzten Jahren fanden mehrere Treffen mit unseren holländischen Nachbarn statt. Unser Sportverein spielt einmal im Jahr gegen den Fußballverein Glane, Niederlande. Die Unterhaltung gestaltet sich dabei hervorra­gend plattdeutsch. Glane liegt hinter Gronau, gleich jenseits der Grenze. Die Gla-ner Bürger sprechen unseren Dialekt. Interessant ist, daß im Gebiet zwischen Gla-ne und Wettrup ein anderer Dialekt, nämlich der westfälische, gesprochen wird.

Als Gästeführerin des Touristikvereins der Samtgemeinden Freren-Lengerich-Spel-le empfange ich auch Besucher, die aus ländlichen Gegenden kommen. Sie kön­nen dann wählen, in welcher Sprache sie unser Dorf und unsere Region kennen­lernen wollen. Oft wird dann der Wunsch nach einer plattdeutschen Führung geäußert.

1969 heiratete ich meinen Mann, und seit 1970 bin ich Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft. Im landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten wir auch mit niederlän­dischen Geschäftspartnern zusammen. Zunächst verständigt man sich hoch­deutsch. Wenn die Niederländer dann feststellen, daß mein Mann und ich platt­deutsch miteinander sprechen, kommt häufig der Ausspruch: „I künnt Plattdütsk? Dann künn wi dat ja vull makliker häbben.” („Sie können Plattdeutsch? Dann kön­nen wir das ja viel einfacher haben.”)

In unserem Familienbesitz befinden sich sehr viele alte Dokumente. Es beginnt mit dem Freikaufdokument aus dem Jahre 1664. Unter anderem sind auch Schrift­stücke vom Amtsgericht Freren aus den Jahren um 1790 vorhanden. Hier war es besonders schwierig, den Inhalt zu lesen. Zunächst bereiteten die Schrift und dann die unverständlichen Begriffe Probleme. Bekannte aus Belgien/Flandern, die nie­derländisch sprechen, konnten hier weiterhelfen. Die Amtssprache war zur Ora-nierzeit in der Niedergrafschaft Lingen nämlich Niederländisch.

Meine Ausführungen haben, so meine ich, schon dargelegt, daß ich die plattdeut­sche Sprache sehr schätze. Sie hilft mir, im täglichen Leben mit den älteren Mit­bürgern oder auch im politischen, geschäftlichen Bereich eine gewisse Nähe zu schaffen. Die plattdeutsche Sprache verbindet uns mit vielen Volksgruppen. Es wä­re nicht wieder rückgängig zu machen und daher sehr schade, wenn unsere Ge­neration die von unseren Vorfahren überlieferte Sprache nicht weitergeben wür­de. Mein Mann und ich möchten gerne mit unseren Enkelkindern, die wir jetzt noch nicht haben, plattdeutsch sprechen.

Kinder können sehr wohl zweisprachig aufwachsen. Nur muß es meiner Meinung nach gewährleistet sein, daß verschiedene Sprachen den Personen konsequent zu­zuordnen sind. Kinder müssen wissen, daß sie dann, wenn sie zum Beispiel mit Oma und Opa sprechen wollen, auch nur in Plattdeutsch verstanden werden. Lei­der haben wir um 1970 bis 1980, als unsere Kinder geboren wurden, nicht so ge­handelt. Damals glaubten mein Mann und ich, daß Kinder nur hochdeutsch oder nur mit der plattdeutschen Sprache aufwachsen können. Sie verstehen uns sehr gut, wenn auf dem Betrieb plattdeutsch gesprochen wird. Aber untereinander sprechen sie ausschließlich hochdeutsch. Ich merke es nicht, wenn ich mit mei­nem Mann plattdeutsch und mit den Kindern und den Auszubildenden automa­tisch hochdeutsch spreche; das läuft im Unterbewußtsein ab.

Einige Chöre singen oft plattdeutsche Lieder, und in den Schulen und Volkshoch­schulen wird seit einigen Jahren wieder Plattdeutsch und Niederländisch angebo­ten. Ersetzen können der Gesang und der Fremdsprachenunterricht die plattdeut­sche Muttersprache nicht. Sie muß im täglichen Leben lebendig bleiben.

Wilhelm Wolken

Platt im Krankenhaus

Aufgewachsen bin ich in dem Dorf namens Versen, und wie es auf den Dörfern üblich war, wurde zu mei­ner Kinderzeit platt gesprochen. Geändert hat sich das erst in der Grundschule – und nur, weil die Lehrerschaft meine Eltern darauf hinwies, daß es für die Entwicklung der Kinder – damit waren mein Bruder und ich gemeint – besser sei, auch außerhalb der Schule hoch­deutsch zu sprechen.

Im Elternhaus wurde also die Sprache „umgestellt”: mit den drei jüngsten Geschwi­stern wurde konsequent hochdeutsch gesprochen, zwi­schen meinen Eltern, meinem Bruder und mir ging es zwischen der hoch- und der plattdeutschen Sprache hin und her. Das ist bis zum heutigen Tage so geblieben.

Während der Jugendzeit war es „in”, nicht mehr plattdeutsch zu sprechen. Es fehl­ten dazu jedoch auch die Gelegenheiten während der weiteren Schulausbildung und des Studiums. Sie beschränkten sich auf das Zuhause sowie den Umgang mit älteren Menschen aus der Verwandtschaft, Bekanntschaft oder der dörflichen Um­gebung.

Heute – und da spielt das wieder erwachte Bewußtsein zum eigenen Dialekt in der Bevölkerung eine große Rolle – stehe ich zu meinen Plattdeutschkenntnissen und nutze sie gerne. Insbesondere wenn bestimmte Gefühle oder Beschreibungen tref­fend mit vielleicht ein, zwei Wörtern formuliert werden sollen, nutze ich gern mei­ne Heimatsprache. Voraussetzung ist dabei natürlich, daß mein Gegenüber die Sprache auch versteht. Aber auch sonst wird die Sprache wieder gern unter „Ken­nern” ohne Scheu genutzt.

In meinem beruflichen Leben und wohl noch mehr im beruflichen Leben der Mit­arbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenhaus, die ständig direkten Kontakt mit den Patientinnen und Patienten haben, hilft die plattdeutsche Sprache häufig über Kommunikationsschwierigkeiten und das Gefühl des Fremdseins hinweg. Hier spreche ich – und das liegt wohl in der Natur der Sache – überwiegend von älteren Patientinnen und Patienten, die ja noch mit „Plätt proten” aufgewachsen sind. Ge­rade sie sind in der für sie fremden und vielleicht auch oft erschreckend techni­schen Welt eines Krankenhauses froh und dankbar, wenn sie wenigstens einen Pfleger, eine Pflegerin oder eine Mitarbeiterin in der Aufnahme finden, mit der sie wie zu Hause und ohne die Angst, etwas Falsches zu sagen, sprechen können. Ich freue mich, wenn ich höre, daß wir im hause noch Mitarbeiterinnen und Mitar­beiter haben, die das Plattdeutsch es gut tut, wenn man sich in dieser Sprache mit ihm unterhält. Letztendlich ist es für ein Krankenhaus wichtig, daß sich der Patient oder die Patientin während des Aufenthaltes wohl fühlt, und ich denke, daß gerade die Sprache – ob nun Franzö­sisch, Englisch oder Plattdeutsch -, daß das Verstandenwerden hier ein ganz wich­tiger Faktor ist.

Unterm Strich gesehen hat also die plattdeutsche Sprache gerade im hiesigen Ge­biet noch eine sehr große Bedeutung, und es wäre wünschenswert, wenn sich auch die Jugend sowie die Kinder mehr mit dieser Sprache auseinandersetzen wür­den. An einigen Schulen wird dazu ja schon wieder ein Anfang gemacht, was si­cherlich Unterstützung verdient.

Vorwort

 

Zur Lage des Plattdeutschen in der Region Emsland und der Grafschaft Bentheim im Jahre 1998

Die plattdeutsche Sprache steht am Scheideweg – auch in der Grafschaft Bentheim und im Emsland. Entweder wird sie in absehbarer Zeit ihre Existenzberechtigung verlieren und in den Zustand einer ganz und gar toten Sprache zurückfallen, oder aber sie findet doch noch die Kraft, sich von ihrem Siechtum zu erholen. So wahr­scheinlich auch erstere Möglichkeit erscheint, sie ist nicht zwangsläufig. Als Sprachträger spielen wir, die Menschen dieser Region, die entscheidende Rolle; wir haben das Schicksal durchaus in der Hand.

Uns, den Herausgebern dieses Sammelbandes, liegt das Plattdeutsche am Herzen, das – soweit wir es sehen – unter einem fatalen Mißverständnis leidet: dem Makel des Minderwertigen. Dem wollen wir entgegentreten. Die beste Werbung ist stets das authentische Zeugnis. Darum luden wir zu Beginn des Jahres 1998 Persön­lichkeiten ein, der Öffentlichkeit von ihren Erfahrungen mit der Ursprache des hie­sigen Raumes zu erzählen. Sie alle stehen mit dem Emsland und der Grafschaft Bentheim in enger Verbindung – sei es, daß sie hier aufgewachsen sind und nun hier leben, sei es, daß sie von außerhalb hierherzogen, sei es, daß sie als Emslän-der und Grafschafter nun irgendwo außerhalb tätig sind. Prominente und ge­wöhnliche Bürger; Bauern, Handwerker und Akademiker; Unternehmer und Ar­beiter – sie alle verbindet die plattdeutsche Sprache.

Wir waren überwältigt von der Resonanz auf unsere ungewöhnliche Bitte. Es war geradezu mit den Händen zu fassen, daß unser Anliegen sich mit Überlegungen deckte, die in vielen Köpfen heranreifen. Die Kapazität, die für ein solches Werk angemessen ist, mußte bis zur letzten Seite ausgeschöpft werden, um in immer neuen Varianten stets eines auszudrücken: Hoalt fast an’t Platt. Hier manifestiert sich eine ganz besondere Art Bürgerinitiative.

Die plattdeutsche Sprache ist eines unserer wichtigsten Kulturgüter. Dieser Land­strich ist nicht sehr reich damit gesegnet. Jahrhundertelang lag er fernab von Poli­tik, gesellschaftlichem Leben und Bildung; er führte sein bescheidenes Eigenleben. Geschichte wurde hier mehr erlitten als erlebt. Die Kargheit der Landschaft, die harte Arbeit der Menschen, alles Freud und Leid ihrer Lebenserfahrung hat sich in ihre Mundart eingegraben. Aber das Emsland und die Grafschaft Bentheim haben etwas aus sich gemacht. Sie können mit Stolz und Selbstbewußtsein auf ihre Ent­wicklung, ihre Leistungen und die ihrer Mitbürger blicken. Nun haben sie allen Grund, die überlieferten kulturellen Leistungen mit dem gleichen Selbstbewußt­sein, das sie sich in den vergangenen Jahrzehnten erworben haben, zu bewahren und das Erbe nach Kräften zu mehren.

In der Tat nehmen das Emsland und die Grafschaft Bentheim ihre kulturellen Chancen mit einem hochzuschätzenden Eifer wahr. Die entstehende Museums­landschaft, das hochaktive künstlerische Leben, aber auch die Heimathöfe mit ihrem regen Treiben, die Formensprache der Architektur sowie der Dorf- und Städteplanung – überall zeigt sich eine produktive Auseinandersetzung mit der Ge­schichte, aus der eine regionale Identität erwächst.

Die Möglichkeiten, die der plattdeutschen Sprache innewohnen, werden dabei je­doch noch nicht voll ausgeschöpft. Sicherlich hat die Mundart an Ausdrucksstärke verloren, an vielen Punkten den Anschluß an die neuen Zeitverhältnisse verpaßt. Dennoch: Ihr Wert wird auch unterschätzt. Da ergeht es der Mundart nicht anders als viele Jahre zuvor den alten Bauern- und Bürgerhäusern. Man ließ sie verfallen, degradierte sie zu Ställen und Scheunen. Man schämte sich ihrer, sie galten als un­modern. In der Tat waren sie oft unpraktisch, weil sie sich dem Einzug des Fort­schritts widersetzten. Doch irgendwann erkannte man, daß reine Nützlichkeit zu kurz greift. Man wurde sich der ideelen Werte und der besonderen Atmosphäre bewußt, die in den alten Mauern ‘zu finden waren. Seither wird kräftig in den Er­halt der alten Häuser investiert; sie sind der ganze Stolz ihrer Besitzer, und viele Neubauten nehmen bewußt Stilelemente des niedersächsischen Ackerbürger-und Hallenhauses auf. So entwickeln das Emsland und die Grafschaft Bentheim zu einem gewissen Grade wieder einen eigenen, landschaftsprägenden Baustil. Eine schon totgeglaubte Tradition lebt wieder auf.

Der ideelle und atmosphärische Wert der regionalen Sprache steht dem der Archi­tektur, der Alltagskultur und der Kunst in nichts nach. Nirgends ist eine ernstzu­nehmende Rechtfertigung zu erkennen, die plattdeutsche Sprache gering zu schät­zen. Im Gegenteil: Dialekte sind lebendiger Ausdruck des gewachsenen Wesens der Menschen einer Region. Die Mundart entspricht der Emotion und dem Fühlen besser als das Hochdeutsche – oder anders ausgedrückt: Sie läßt Saiten zum Klin­gen kommen, die mit der hochdeutschen Sprache nicht berührt werden können.

Dieses Bewußtsein – so zeigen die Beiträge dieses Buches – findet zunehmenden Anklang. Die Aufholjagd bei der Angleichung der Lebensverhältnisse wurde eben nicht nur mit Vorteilen erkauft. So wichtig es war, Sprachbarrieren zu beseitigen, so unnötig ist die Tendenz, dem Plattdeutschen den Todesstoß zu versetzen. In vie­len der Lebensbeschreibungen der Autoren findet sich der schleichende, schmerz­lich empfundene Traditionsbruch wieder, als die Eltern zumeist auf Veranlassung der Schule das Plattdeutsche beiseite räumten und sich vornehmlich des Hoch­deutschen bedienten. Mit der Sprache wurde oft ähnlich rigoros verfahren wie bei Flurbereinigungen mit der Landschaft.

Der Unterschied ist jedoch: Die Landschaft erholt sich. Die geschlagenen Wunden wachsen zu. Bis zu einem gewissen Ma3 hat ein Rückbau eingesetzt. Die platt­deutsche Sprache hat es schwerer. Sie verliert in der Bevölkerung mit rasanter Ge­schwindigkeit ihre Basis. Wie schnell, darüber gab zuletzt eine Schüler- und El­ternbefragung zum Stand des Plattdeutschen im Emsland aus dem Jahre 1990 Aus­kunft. Diese wohl bisher umfangreichste Regionaluntersuchung, die mit erhebli­cher Unterstützung des damaligen Schulaufsichtsamtes und des Landkreises Emsland durchgeführt werden konnte, erfaßte alle damals zehnjährigen Kinder von Salzbergen im Süden bis hinauf nach Papenburg (insgesamt 3184 Mädchen und Jungen). Leider war seinerzeit die Grafschaft Bentheim nicht beteiligt. Das nüch­terne, aber sicherlich auch schockierende Ergebnis lautet: Nur noch drei von hun­dert Kindern konnten gut plattdeutsch sprechen, 42 Prozent unsere Mundart frei­lich noch gut verstehen.

Da auch die Eltern- und Großelterngeneration in die Untersuchung einbezogen war, konnte so erstmals der drastische Rückgang von 70 Prozent Plattsprechern bei den Großeltern über 55 Prozent bei den Eltern hin zu dem erschreckenden Er­gebnis bei den Kindern nachgewiesen werden.

Die Befragung gab jedoch auch Indizien dafür, daß es für eine Wiederbelebung noch nicht unbedingt zu spät ist. Unerwartet viele Väter und Mütter – die Rück-laufquote betrug 94 Prozent – bearbeiteten den ihnen zugestellten umfangreichen Fragebogen sehr genau und dokumentierten damit ihr Interesse am Erhalt des Kul­turgutes Plattdeutsch. Zugleich wurde die Wertschätzung dieser Sprache darin deutlich, daß sechs von zehn Elternpaaren (einschließlich der „Hochdeutschbur-gen” Lingen, Meppen und Papenburg) sich eine intensive Beschäftigung ihrer Kin­der mit dem Plattdeutschen in der Schule wünschten.

Das legt den Schluß nahe: Die überwiegende Mehrzahl der Eltern wagt es nicht, mit ihren Kindern in der Vorschulzeit plattdeutsch zu sprechen, da sie dann schu­lische Nachteile befürchten. Ist jedoch der Nachwuchs erst einmal in der Schule, sollte er nach dem Wunsch der Eltern möglichst schnell – so nebenbei – die heimi­sche Sprache erlernen. Es ist natürlich illusorisch anzunehmen, die Schule könne dies leisten. Hier können nur – wie in vielen anderen Bereichen auch – Elternhaus, Schule und Lebensumfeld gemeinsam etwas erreichen.

Wichtig wäre zum Beispiel, wenn die Großeltern-Generation an ihren Enkeln das Versäumnis wiedergutmachen würde, das sie heute im Bezug auf ihre Kinder be­klagt. Sie könnte die jüngste Generation noch am besten bewußt in die plattdeut­sche Sprache einführen. Für die damals umgehende Furcht vor schulischen Fehl­leistungen gibt es heute keine Berechtigung mehr. Lebensumfeld, Eltern und Me­dien sorgen. in jedem Fall dafür, daß Plattdeutsch heute nicht mehr als Erst-, son­dern nur als Zweitsprache erworben wird.

Eine weitere wichtige Erkenntnis scheint dabei zu sein, daß wir in unserer Region mit einer ungeschriebenen Regel brechen müssen, die offensichtlich im außerge­wöhnlichen Respekt vor Fremden und Amtspersonen ihre Wurzel hat: Mit wem man einmal hochdeutsch redet, mit dem spricht man immer hochdeutsch. Die Beiträge dieses Buches und ihre Autoren sind eine Aufforderung, diese Attitüde ab­zulegen. Es ist keineswegs mehr ein Zeichen von Rückständigkeit, sich zu seiner Muttersprache – die es bei den aktiven Sprechern zumeist noch ist – zu bekennen. Im unmittelbaren Kontakt mit dem Plattdeutschen sind Leitungspersönlichkeiten in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur herangewachsen, die keinen Vergleich im In- und Ausland zu scheuen brauchen. Platt sprechende Emsländer und Grafschafter machen ihren Weg – auch davon legt dieses Buch Zeugnis ab.

Der Sammelband besticht durch seinen Facettenreichtum. Die Autoren nähern sich dem Thema aus den mannigfaltigsten Perspektiven. Biografisches wechselt mit Kultur- und Sprachgeschichtlichem, Politischem, Pädagogischem. Neben Wit­zen und Dönkes stehen lyrische Texte sowie sehr durchdachte Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft. Kurz: Entstanden ist ein bunter Blumenstrauß sprachli­cher Eindrücke und Erfahrungen – so bunt wie die Sprache selbst.

Wir danken allen, die zum Gelingen beigetragen haben. Von den Autoren erhiel­ten wir vielfältige Anregungen, die oft weit über den Rahmen dieses Buches hin­ausgingen. Ganz besonders hervorheben möchten wir Herrn Grave vom Emslän-dischen Heimatbund und Herrn Horstmeyer aus Nordhorn, die das Projekt mit Rat und Tat begleiteten und uns manche Tür öffneten. Ebenso Herrn Professor. Dr. Pott aus Nordhorn, der dem Buch mit seinen Illustrationen eine besondere optische No­te gibt.

Wenn so viele Menschen so intensiv über die Zukunft des Plattdeutschen nach­denken – wie kann einem da um die Sprache bange sein!

Emsbüren, im August 1998

 

Theo Mönch-Tegeder                             Bernd Robben