3.4. Vergleich von GETAS-Befragung und Ergebnissen im Landkreis Emsland

Im folgenden wollen wir einige Ergebnisse der GETAS-Befragung und unserer Befragung einander gegenüberstellen. Diese Zahlen weisen zugleich darauf hin, daß die Aussagen der GETAS-Umfrage infolge mangelnder regionaler Differenzierung nur einen eingeschränkten Aussagewert haben.

Aus diesen Zahlen darf man sicherlich schließen, daß die aktive Mundartkompe­tenz der Kinder im gesamten Verbreitungsgebiet des Niederdeutschen ebenfalls unter dem emsländischen Niveau liegt, das mit 3% schon sehr niedrig ist.

3.3 Kompetenzvergleich zwischen mittlerer und jüngerer Generation

 

Während in der mittleren Generation der Väter und Mütter im Emsland (zwi­schen 34 und 50 Jahre alt) noch mindestens jeder Zweite fließend platt sprechen kann, beherrschen nur noch 3 von 100 der heute 12-Jährigen diese Sprache auf dem gleichen Kompetenzniveau — ein enormer Rückgang innerhalb einer Generation.

Auch wenn erfahrungsgemäß bisher ein Anwachsen der Mundartkompetenz mit zunehmendem Alter zu verzeichnen ist, etwa beim Eintritt in bestimmte Berufe, wird sich dadurch in naher Zukunft das negative Bild nicht ändern — es sei denn, die eingangs beschriebenen Hindernisse würden in Kürze abgestellt, was bei der konser‑

kann Elterngeneration Kinder‑
sprechen Väter Mütter generation
gut 58,7 51,2 3,0
weniger gut 15,0 23,4 32,6
gar nicht 16,8 24,8 64,1

3.3 Kompetenzvergleich zwischen mittlerer und jüngerer Generation

Während in der mittleren Generation der Väter und Mütter im Emsland (zwi­schen 34 und 50 Jahre alt) noch mindestens jeder Zweite fließend platt sprechen kann, beherrschen nur noch 3 von 100 der heute 12-Jährigen diese Sprache auf dem gleichen Kompetenzniveau — ein enormer Rückgang innerhalb einer Generation.

Auch wenn erfahrungsgemäß bisher ein Anwachsen der Mundartkompetenz mit zunehmendem Alter zu verzeichnen ist, etwa beim Eintritt in bestimmte Berufe, wird sich dadurch in naher Zukunft das negative Bild nicht ändern — es sei denn, die eingangs beschriebenen Hindernisse würden in Kürze abgestellt, was bei der konservativen Grundeinstellung vieler Emsländer in diesem zwischenmenschlichen Bereich kaum zu erwarten ist. Daß allerdings in der passiven Sprachkompetenz ein nicht zu unterschätzendes Reservoir für den aktiven Erwerb schlummert, deuten Anfangserfol­ge in

plattdeutschen Arbeitsgemeinschaften in den Schulen an. Im Umfeld der Familie und der lokalen Sprachgemeinschaft jedoch stehen die beschriebenen Widrigkeiten z.Zt. eindeutig gegen eine Änderung der Verhältnisse.

 

3.1. Aktive Mundartkompetenz der Schüler

 

Unsere erste Frage richtet sich auf die aktive Dialektkompetenz der Schüler, wobei die Einschätzung der Kompetenz durch die Eltern und die Ergebnisse des Tests einander gegenübergestellt werden (vgl. Tab. 1).

Die Testergebnisse und die Werte der Elterneinschätzung liegen im Kreisdurch­schnitt erstaunlich nahe beieinander. Untersucht man jedoch die Ergebnisse der einzelnen Gemeinden, so irren sich die Eltern mit der Einschätzung der Fähigkeiten ihrer Kinder zum Teil ganz erheblich, wie noch im Abschnitt 3.6. „Regionale Unter­schiede” dargestellt wird.

 

Dr. Andreas Eiynck

Die Sputnik-Generation

Daß der Niedergang der niederdeutschen Sprache mit einem Ereignis im Weltall zusammenhängen könnte, mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinen. Als aber im Herbst 1957 die Sowjetunion die beiden Sa­telliten Sputnik I und II mit der Polarhündin Leika in den Weltraum katapultierte, wurde dieses Ereignis zu einem Wesentlichen Auslöser der bildungs- und gesell­schaftspolitischen Diskussionen und Reformen der 60er Jahre. Es entstand die sogenannte „Sputnik-Gene­ration”, die mit Kurzschuljahren in das Bildungssystem eingeführt, mit der Abschaffung der Volksschule und der Zwergschulen weiterbetreut und schließlich, nun schon in den 70er Jahren, mit der Einführung der reformierten Oberstufe beglückt wurde. Mengenlehre, englische Sprache und nicht zuletzt die Popmusik haben das Denken (und Han­deln?) dieser Generation geprägt, zu der zu zählen auch ich mich glücklich schät­zen darf.

Denn eigentlich, das muß man offen bekennen, fehlte es uns, den Kindern und Ju­gendlichen der 60er und 70er Jahre, an nichts. Alles konnten wir werden, haben, erreichen, nur eines war verpönt – die plattdeutsche Sprache und die damit ver­bundene traditionelle Lebenswelt auf dem Lande, die als ein entscheidender Hemmschuh für „fortschrittliche Entwicklung” von Bildung und Gesellschaft und vor allem bei der korrekten Erlernung der schwierigen hochdeutschen Sprache an­gesehen wurde.

Auch in unserem münsterländischen Landstädtchen vermieden es unsere Eltern ganz bewußt, ihre überlieferte Mundart an uns weiterzugeben. Aus uns sollte schließlich etwas werden: Lehrer, Beamter oder gar Ingenieur. Plattdeutsch konn­te bei solchen Bildungszielen nur hinderlich sein.

So plagten wir uns mit „mir” und „mich” oder „wem” und „wen”, wobei den Mög­lichkeiten zur grammatikalischen Hilfestellung durch unsere Erzieher gelegentlich enge Grenzen gesetzt waren. Nur wer Glück hatte, konnte bei Großeltern, Ver­wandten oder Nachbarn auch plattdeutsche Grundkenntnisse aufschnappen – und das in der Heimat von Augustin Wibbelt und Karl Wagenfeld, Anton Aulke und Natz Thier.

Aber – ehrlich gesagt – so richtig vermißt haben wir als Kinder und Jugendliche das Plattdeutsche damals nicht. Ganz sang- und klanglos verschwand innerhalb einer Generation das Plattdeutsche aus vielen Familien und aus der Öffentlichkeit.

Irgendwann in den 70er Jahren kam es dann plötzlich wieder – zunächst gezähmt in „plattdeutschen Kursen” und Lesewettbewerben. Als zartes Pflänzchen sollte hier wieder gedeihen, was man zwanzig Jahre vorher noch hatte ausmerzen wol­len. Ob diesen pädagogischen Ansätzen zur Erhaltung der plattdeutschen Sprache ein dauerhafter Erfolg beschieden sein wird, mag die Zukunft zeigen.

Auch in einem ganz anderen Bereich tauchte das Plattdeutsche in den 70er Jahren wieder auf: In den beliebten plattdeutschen Theaterkomödien und den sogenann­ten Sketchen. In ihnen wurde zumeist das traditionelle Leben auf dem Lande auf die Schippe genommen, und durch die derbe Art der Aufführungen wurden auch die Lachmuskeln der (fast) Sprachunkundigen arg strapaziert.

Später dann schwappte das Plattdeutsche im Zuge der Nostalgiewelle noch einmal mit breitem Wellenschlag über das öffentliche Parkett. Überall, besonders auf dem Lande, hörte man nun bei Festreden, Eröffnungen, Jubiläen wieder plattdeutsche Exkurse, zumeist verbunden mit einem flammenden Bekenntnis zur plattdeut­schen Kultur und Wesensart, die es auch jungen Menschen zu vermitteln gelte. Peinlich wirkt dies immer dann, wenn es von Rednern vorgetragen wird, die sich beim Plattdeutschen offenbar selber auf nicht ganz sicherem Parkett bewegen…

Und die Jüngeren, denen das Plattdeutsche wieder vermittelt werden soll? Den meisten von „uns Jüngeren”, jedenfalls denen aus der „Sputnik-Generation”, feh­len die dafür notwendigen Voraussetzungen. Das Plattdeutsche, die „Mutterspra­che” unserer Mütter, ist uns zur Fremdsprache geworden. Den meisten blieb sie ebenso fremd wie das „Vaterland” unserer Väter, das uns durch das „Europa der Zukunft” längst abgelöst schien.

Daß mich meine berufliche Zukunft später einmal sozusagen zum „Profi-Nieder­sachsen” machen würde, dessen Arbeitgeber die niederdeutsche Tradition einer ganzen Region geradezu verkörpert, habe ich mir damals noch nicht träumen las­sen. Erst im Laufe der Berufsausbildung wuchs mein Interesse an der niederdeut­schen Kultur, die ich bald eifrig studierte und über die ich auch promovierte. Eines lernte ich dabei nicht – Plattdeutsch.

Oft schon habe ich mich dann in den letzten Jahren, hier in der Provinz, gefragt: Kann man eigentlich im Emsland als Museumsleiter tätig sein, ohne die örtliche plattdeutsche Sprache aktiv zu beherrschen? (Und manche werden sich das viel­leicht auch schon gefragt haben.) Eine endgültige Antwort darauf habe ich für mich bislang noch nicht gefunden – aber man ist ja noch lernfähig.

Georg Borker

Auch evangelisch?

Als ich im Jahr 1955 in meinen ersten Schultagen nach Hause kam, habe ich doch allen Ernstes meine Mutter gefragt: „Sind wir auch evangelisch?” Als meine Mutter ganz erstaunt nachfragte, wie ich darauf komme, ant­wortete ich: „Alle meine Klassenkameraden sprechen in der Pause und nach der Schulzeit plattdeutsch, bis auf zwei. Und diese beiden sind evangelische Flüchtlinge.”

In meiner Kindheit wurde in Lohne fast nur platt ge­sprochen. So hatten manche ältere Leute mit der hoch­deutschen Sprache ihre Probleme. Aus diesem Grunde vermieden meine Eltern es, mit uns platt zu sprechen. So konnte ich bis 1955 nur hochdeutsch sprechen – aber das änderte sich schnell. Ich lernte durch die Schule von meinen Klassenkameraden die plattdeutsche Sprache, während diese in der Schule hochdeutsch lernten. Ein Mitschüler fand das scheinbar sehr frustrierend. Er kam nach den ersten Schultagen mit der Bemerkung nach Hause: „Mama, dat Proaten, wat de dort doot, dat lern ick noit.” Aber auch er spricht heute perfekt hochdeutsch. In meinem Elternhaus wurde weiterhin mit mir und meinen jünge­ren Geschwistern hochdeutsch gesprochen. Aber auch diese lernten Plattdeutsch durch ihre Freunde. Heute spreche ich mit meiner Mutter und meinen Geschwi­stern nur plattdeutsch.

In den 60er und 70er Jahren fing es dann an, daß man vielerorts als „Bauer”, „Dörf­ler” oder rückständig angesehen wurde, wenn man platt sprach. Es galt auch im­mer noch das Vorurteil, daß die mit dem Plattdeutschen aufgewachsenen Kinder speziell in weiterführenden Schulen Schwierigkeiten hätten. Im Nachhinein hat sich diese Ansicht nicht bewahrheitet, aber meine Frau und ich sprachen mit un­seren Kindern auch nur hochdeutsch.

Versuche, unseren heute erwachsenen Kindern noch Plattdeutsch beizubringen, schlugen meist fehl. Zwar können sie das Gesagte verstehen, da in der Nachbar­schaft und Verwandtschaft noch sehr viel plattdeutsch gesprochen wird, jedoch klingt beim Sprechen immer ein nicht üblicher Zungenschlag mit. Aber es wird weiter geübt.

Ich selber spreche heute noch sehr viel platt. In meinem Beruf habe ich es mit vie­len Menschen im Altkreis Lingen und der Grafschaft Bentheim im Baugewerbe zu tun. Hier wird noch viel platt gesprochen. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man mit der plattdeutschen Sprache schneller Kontakt mit den Leuten auf dem lande bekommt. In der Grafschaft trifft dieses noch mehr zu als im Landkreis Lingen. Dieser Unterschied ist in den Städten noch größer. In Nordhorn, Bad Bent-heim oder Schüttorf kommt man mit der plattdeutschen Sprache fast immer klar, während man in Lingen schon öfter auf Unverständnis stößt.

Damit unsere schöne plattdeutsche Sprache nicht ganz ausstirbt, ist es wichtig, sie weiterhin zu pflegen. Wir sollten das, was wir bei unseren Kindern versäumt ha­ben, bei den Enkelkindern nachholen und mit ihnen plattdeutsch sprechen. Scha­den wird es keinem Kind, zweisprachig aufzuwachsen. Wenn wir uns alle daran halten, wird es auch in hundert Jahren in unserer Region Menschen geben, die plattdeutsch sprechen. Davon bin ich überzeugt.

Dr. Heinrich Book

Saxonicare necesse est

Im Jahre 1928 habe ich mit fast 15 Jahren mein Hei­matdorf auf dem Hümmling verlassen und bin zum Be­such einer weiterführenden Schule in die Ruhrmetro­pole Essen übergesiedelt. Statt des verträumten Tusku-lum in der Hümmlinger Heide erwarteten mich dort rauchende Schlote und feuerspeiende Hochöfen. Meine Füße, die ich bis dahin entweder unbekleidet gelassen oder in luftigen Holzschuhen untergebracht hatte, muß­ten sich an ein enges Schuhwerk gewöhnen, und an die Stelle der gewohnten plattdeutschen Sprache trat das Hochdeutsche.

Es vollzog sich bei mir eine Art Metamorphose. Da war es nicht verwunderlich, daß mich bald ein mächtiges Heimweh schüttelte und alles Zurückgelassene mit einer Mandorla und einer Glo­riole umgab, deren Glanz bis heute nicht ganz verblaßt ist. Ich mußte lernen, die plattdeutschen Satz- und Wortformen gegen passende hochdeutsche Wendungen auszutauschen. Dies war zugleich auch eine gute Vorübung für das dann folgende Erlernen von Latein und Griechisch.

Mein Hochdeutsch war zunächst sicherlich sehr ungelenk und holperig, aber weil ich in der Dorfschule mit guten theoretischen Kenntnissen der Wortregeln und der Rechtschreibung ausgestattet worden war, konnte ich meine hochdeutsche Sprachfähigkeit recht bald auf den gehörigen Stand bringen. Plattdeutsch und Hochdeutsch nebeneinander und wechselweise denken und sprechen zu können, das war der unschätzbare Gewinn aus eben dieser Zeit. Von dieser Zweisprachig­keit habe ich ein ganzes Leben lang zehren können.

In meinem ärztlichen Beruf ist mir diese Fähigkeit sehr zustatten gekommen. Sie wurde zu einer der Quellen, aus denen sich das Vertrauen gespeist hat, von dem ich mich ein ganzes Arztleben lang durfte getragen fühlen. Das galt von den Pa­tienten aus meiner Heimatregion noch in besonderer Weise. Welche Kraft ich dar­aus schöpfen konnte und welche Beglückung darin lag, bedarf keiner Erörterung.

Es war darum für mich nur die Abstattung einer Dankesschuld, als ich mich ent­schlossen habe, nach Beendigung meiner ärztlichen Berufstätigkeit die verblei­bende Mußezeit der Betreuung meiner eigentlichen Muttersprache, dem Platt­deutschen, zu widmen. Dabei habe ich über meine bisherigen Kenntnisse hinaus erfahren, welche wertvollen kulturellen und geistigen Schätze sich in unserer so unscheinbar wirkenden plattdeutschen Mundart verborgen halten, und wie weit

Dr. Franz Bölsker-Schlicht

Mit einem gewissen Kulturstolz

In meiner Eigenschaft als Hochschuldozent am Institut für Geschichte und historische Landesforschung an der Universität in Vechta bin ich fast in jedem Jahr an ei­nem Austauschprogramm mit Hochschulen in Te-xas/USA beteiligt. Zumindest stelle ich den in Vechta weilenden Studenten und Kollegen aus Amerika, die selbst überwiegend deutscher Abstammung sind und über einige deutsche Sprachkenntnisse verfügen, in ei­nem Vortrag einige Hauptaspekte der Sozial- und Kul­turgeschichte Nordwestdeutschlands vor. Dabei lasse ich es mir nicht nehmen, meinen Zuhörern auch die sprachgeschichtliche Entwicklung des deutschen Nor­dens zu erläutern.

Zwar haben die texanischen Gäste, die sich in der Regel gründlich auf ihren Auf­enthalt in Deutschland vorbereitet haben, zuvor schon gehört oder gelesen, daß auf dem Lande vielfach noch heute ein vom Schriftdeutschen deutlich verschiede­ner „Dialekt”, das sogenannte Plattdeutsch, gesprochen wird, aber großes Erstau­nen löst dann – und das nicht nur bei den Gästen, sondern auch bei anwesenden hochdeutschen Kollegen und Studenten – die Information aus, daß das Nieder­deutsche vor Jahrhunderten nicht nur in ganz Norddeutschland Amts- und Schrift­sprache, sondern auch die – nach dem Hochdeutschen, aber weit vor dem Engli­schen – zweitwichtigste germanische Sprache überhaupt war und daß das Engli­sche beziehungsweise das Alt-Angelsächsische vor eineinhalb Jahrtausenden aus derselben altsächsischen Wurzel hervorgegangen ist wie das Niederdeutsche. Ei­ne Art von Solidarisierungseffekt löst dann bei meinen englischsprachigen Zuhö­rern mein persönliches Bekenntnis aus, daß auch ich das Hochdeutsche erst in der Schule als meine erste Fremdsprache erlernt habe.

In der Tat habe ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr nur das Niederdeutsche ge­sprochen und verstanden. Seitdem lebe ich in einer Situation der Zweisprachigkeit: Niederdeutsch blieb die Sprache des familiären, privaten Bereichs und, als ich spä­ter als Fahrschüler das Gymnasium in Meppen besuchte, die Sprache meiner en­geren Heimat Rütenbrock. Hochdeutsch dagegen war die Sprache, der ich mich in der Öffentlichkeit, das heißt im Unterricht, in den Geschäften, im kirchlichen Raum und nicht zuletzt in allen schriftlichen Belangen, zu bedienen hatte.

Hochdeutsch war zudem, seit ich das Gymnasium in Meppen besuchte, auch die ausschließliche Sprache des Pausenhofes, während in der Volksschule der Ge­brauch des Hochdeutschen ausschließlich auf den eigentlichen Unterricht beschränkt geblieben war und sich die „private” Kommunikation mit den Mit­schülern ganz selbstverständlich auf Plattdeutsch abgespielt hatte. Daß dieses auf dem Gymnasium nicht mehr der Fall war, sondern daß das Hochdeutsche nun erstmals in meinem Leben einen Teil meiner „privaten” Sphäre, nämlich den Kon­takt zu meinen Mitschülern, beherrschte, habe ich persönlich als weitaus größe­ren Bruch empfunden als einige Jahre zuvor die Notwendigkeit, das Hochdeutsche als Unterrichtssprache erlernen zu müssen.

In dem Maße, wie die privaten Kontakte mit Gleichaltrigen in meinem Heimatort, so vor allem mit früheren Mitschülern aus der Volksschule, allmählich abnahmen, reduzierte sich in den folgenden Jahren für mich der Bereich des Niederdeutschen immer mehr auf die Kommunikation im Elternhaus sowie innerhalb der Ver­wandtschaft und Nachbarschaft, während ich in meiner Jugendzeit nach und nach in weitere hochdeutsche Lebensbereiche hineinwuchs. Diese Tendenz verstärkte sich verständlicherweise noch, als nach der Schulzeit die Bindungen an Elternhaus und Heimatort lockerer wurden.

Nach langen Jahren des allmählichen Bedeutungsverlustes der niederdeutschen Sprache in meiner eigenen „Sprachgeschichte” begegnete ich schließlich im Rah­men meiner beruflichen Tätigkeit erstmals der historischen Kultursprache Nieder­deutsch. Meine Muttersprache, die in meinem eigenen Leben immer mehr auf den Bereich des Privaten und Familiären beschränkt worden war und in den Augen vieler „Hochdeutscher” als bäurisch und primitiv abgetan wurde, nun als die offi­zielle Sprache der Hanse, ja als die einst unumstrittene Schrift- und Amtssprache . des gesamten norddeutschen Raumes zwischen Niederrhein und Weichsel, ja selbst der Baltendeutschen wiederentdecken zu dürfen, erfüllt mich mit einer spä­ten Genugtuung, ja sogar mit einem gewissen Kulturstolz. Die niederdeutsche Sprache, so möchte ich abschließend diesem Kulturstolz Ausdruck geben, ist eben nicht nur das sprachliche Gewand dörflich-ländlichen Brauchtums und eines herz­haften bäuerlichen Humors, sondern uraltes kulturelles Erbe, das es, auch wenn die Sprache immer weniger gesprochen wird, ebenso zu bewahren gilt wie ande­re altehrwürdige Kultursprachen.

Prof. Dr. Margareta Bloom-Schinnerl

Die Blamage mit der Beschüte

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In dem Dorf, in dem ich groß geworden bin, wurde da­mals – vor Jahrzehnten – noch überall plattdeutsch ge­sprochen. In den Familien, im „Dorfladen”, beim Schu­ster und beim Bürgermeister… Das war völlig selbstver­ständlich, niemand nahm Anstoß daran. Im Gegenteil: wer hochdeutsch sprach, galt als affektiert und arro­gant, als Städtker, der sich qua Sprache aus der Dorfge­meinschaft ausschloß.

Bei uns im Hause wurde auch plattdeutsch gesprochen – vor allem von den Großeltern -, mit uns Kindern jedoch sprach jedermann hochdeutsch. Daraus resultier­te, daß wir Kinder das Plattdeutsche zwar sehr wohl verstanden, es aber nie aktiv sprachen. Bis auf einzelne Worte und Redewendungen. Eines jener plattdeutschen Worte, die wir ganz selbstverständlich in unseren hochdeutschen Wortschatz in­tegriert hatten, brockte mir eine nie vergessene Blamage ein. Das war so: Im Deutschunterricht des Gymnasiums, Klasse 5 – also werde ich so um die zehn Jah­re alt gewesen sein – ging es darum, Wörter zu sammeln, die irgendwas mit „Brot” zu tun haben. Brötchen, Semmeln, Zwieback, Kuchen, Kekse… die Wortmeldun­gen kamen von allen Seiten, die Liste der Synonyme und der bedeutungsver­wandten Bezeichnungen wurde lang und länger, bis allmählich keinem Schüler und keiner Schülerin mehr etwas dazu einfiel.

Ich wunderte mich die ganze Zeit, weil niemand das Wort genannt hatte, das mir als allererstes dazu einfiel. Etwas, das bei uns in der Familie täglich auf dem Tisch stand. Insbesondere mein Großvater aß es mit Genuß, indem er es – bevor er es zum Mund führte – in seine warme Milch eintunkte. Beschüte! Ganz klar, Be-schüte gehörte doch wohl auch eindeutig zu den Dingen, die etwas mit Brot zu tun haben! Da also niemand meiner Mitschüler auf diese naheliegende Idee ge­kommen war, hob ich nun meinen Finger. Der Deutschlehrer blickte mich fragend an und voller Genugtuung, daß ich diejenige war, der das Naheliegendste einfiel, sagte ich: „Beschüte!”

Der Lehrer zog seine Stirn in Falten, blickte mich zweifelnd an und – – – verstand mich offensichtlich nicht! Ich begriff die Welt nicht mehr! Wieso kannte der I.eh rer keine Beschüte, die doch bei uns – ich schwöre – tagtäglich auf dem Tisch stand? Ich wiederholte: „Beschüte.” Ein Mitschüler lachte laut und rief: „Das ist doch plattdeutsch. Beschüte heißt Zwieback!” Klar, daß die ganze Klasse losgrölte, und ich – eines der wenigen Kinder, das aus einem Dorf kam und in der Stadt zur Schu­le ging – wäre am liebsten vor Scham in den Erdboden versunken.

Ich erinnere mich auch noch daran, wie eines Tages die Großmutter der Nachbar-kinder zu uns kam und meinem Bruder fünf Mark anbot – verbunden mit der Auf­lage, täglich hochdeutsch mit ihren Enkeln zu sprechen. Denn im Nachbarhaus wurde ausschließlich plattdeutsch gesprochen, und darunter litten die schulischen Leistungen der Kinder.

Vor einiger Zeit bin ich – nachdem ich zwei Jahrzehnte in einer Großstadt gelebt habe – zurückgekehrt ins Emsland. Mein ältester Sohn, damals 8 Jahre alt und ei­ne echte Großstadtpflanze, meldete sich – kaum daß er hier eingeschult war – zur Teilnahme an einem Lesewettbewerb in plattdeutscher Sprache an. Das imponier­te mir sehr! Denn Plattdeutsch war für ihn so etwas wie eine Fremdsprache. Den Text, den er von seinem Lehrer zum Üben bekam, mußte ich ihm zunächst über­setzen, damit er den Inhalt überhaupt verstand. Unverdrossen jedoch übte er täg­lich den plattdeutschen Text – Schwierigkeiten gab es vor allem bei der Artikula­tion und bei seiner Sprachmelodie, die nichts, aber auch gar nichts gemeinsam hat mit der typisch plattdeutschen. Er erntete denn auch keine Lorbeeren beim schu­lischen Vorlesewettbewerb!

Sprache und Grammatik meines Sohnes waren bereits so gefestigt, daß das Platt­deutsche ihm nichts mehr anhaben konnte. Anders bei meiner fünfjährigen Toch­ter, auf deren Sprachstil, fehlerlose Grammatik und reichen Wortschatz ich so stolz war. Innerhalb kürzester Zeit begann sie mit merkwürdigen Pluralbildungen – On­kels, die Lehrers -, verleibte grammatikalische Fehler – unseres Haus – und andere fragwürdige Wendungen in ihre Sprache ein – das bin ich in Schuld. Mit fünf Jah­ren ist die grammatikalische Sprachstruktur offensichtlich noch nicht so gefestigt, daß sie unanfechtbar ist. Es kostete Mühe und Zeit, die grammatikalischen Irrita­tionen meiner Tochter wieder zu glätten.

Meine nächste Begegnung hier mit der plattdeutschen Sprache war eine Senderei­he für die Ems-Vechte-Welle, dem hiesigen Offenen Kanal. Ich traf mich einmal in der Woche mit Seniorinnen und Senioren, die über frühere Zeiten sprachen, auf Plattdeutsch. „Früher gaft dat nick”- daraus entstanden mehrere einstündige Ra­diosendungen. Themen waren zum Beispiel: „Schoole in de Hitlertied”, „Kriegsen­de in’t Emsland”, „Speck för’n Fahrradreifn up`n schwatten Markt in de 40er” und „Brutlöh und Hochtied früher”. Diese Arbeit wuchs mir sehr schnell ans Herz, weil sie viel mit mir und meinen Wurzeln zu tun hatte. Und dazu gehört unabdingbar die plattdeutsche Sprache.

Meine Haltung zur plattdeutschen Sprache heute ist sehr ambivalent: Einerseits ist sie mir vertraut, vertraut im positiven Sinne des Wortes, die Sprache meiner Hei­mat, in der ich meine Wurzeln habe – andererseits halte ich die plattdeutsche Spra­che für sehr hinderlich bei der Ausbildung eines guten Sprachstils.

Das Plattdeutsche hat etwas von einem geschlossenen Code, ist eine Sprache für Eingeweihte, signalisiert Dazugehörigkeit und läßt Fremde erst mal draußen stehen – wie jeder andere Dialekt und jede andere Mundart auch. Wer plattdeutsch spricht, offenbart damit zugleich eine bestimmte Lebens- und Weltsicht, die viel mit Tradition, Althergebrachtem, Abgrenzung und Vereinfachung zu tun hat. In der plattdeutschen Sprache ist kein Raum für großartige Gefühle – wohlgemerkt: ich meine die Sprache, nicht die Menschen. Denn die haben sehr wohl großartige Gefühle, nur sie reden nicht gern darüber. Ick mach di heller lien – ist vermutlich das ausdrücklichste Liebesbekenntnis, das in plattdeutscher Sprache möglich ist. So gesehen paßt sie zu den Emsländern: Sie meiden die großen Worte und fürch­ten die Sentimentalität oder auch „Gefühlsduselei”.

So is dat! Ferrich.